Shakespeares ruhelose Welt
frei und verlockend; eine vielleicht unbeschwerte Vision von Londons unbekümmerter wirtschaftlicher Zukunft, aber auch ein Ort, an dem die die Gesellschaft bestimmenden Regeln beängstigend fließend sind. In Othello , Shakespeares zweitem großen Stück, das in Venedig spielt, bietet die Stadt die ideale Bühne, auf der die Grenzen der Zugehörigkeit erprobt und unbehagliche Vorstellungen von Rasse und Religion aus sicherer Distanz erkundet werden können. Hier in Venedig konnte eine junge jüdische Frau durchaus mit einem Christen durchbrennen, konnte ein erfolgreicher schwarzer General die Tochter eines weißen venezianischen Edelmanns heiraten.
Venedigs Ruf als Ort gelockerter Regeln ging über die Vorstellung von Mischehen weit hinaus. Shakespeares Zuschauer imaginieren einen Ort, an dem alles möglich ist, wobei Geschäft und Weltoffenheit nur ein Teil dessen sind, was diese Stadt zu einem so schwindelerregenden Phantasieort macht. Schönheit und Verführung wurden mit Venedig – mit seinen Bauwerken wie mit seinen Bewohnern – wirkungsvoll verbunden, und das wohl vor allem im kollektiven Bewusstsein der puritanischeren, postreformatorischen Teile Europas. Wenn das Wappen und der Goldrand etwas über Venedigs Adel und Geschäftswelt sagen, dann spielt die Dame auf dem Glaskelch auf die dunklere Seite der Stadt und ihre Verlockungen an. Ihr dichtes blondes Haar ist provozierend zu zwei Hörnchen auftoupiert, ihr gewagtes Kleid betont einen beachtlichen Ausschnitt. Zudem trägt sie einen runden schwarzen Fächer und – auffallend – ein weißes Tuch. Betrachtet man sie, fällt es schwer, nicht an eine andere reiche venezianische Dame zu denken, an Desdemona und ihr schicksalhaftes Tuch, das zum bedrohlichen Ausweis ihrer sexuellen Untreue gemacht wird.
Zusätzlich verwirrend ist, dass ein Blick auf das Glas nicht erkennen lässt, ob die darauf gemalte Dame eine Patrizierin ist oder eine Dirne, ob grande dame oder grande horizontale . Unzählige Reisende des siebzehnten Jahrhunderts fühlten in der Begegnung mit venezianischen Frauen eine ähnliche Zweideutigkeit – selbst bei Frauen, die so unnahbar rein warenwie Desdemona –; und das schien alle möglichen Vergnügungen und reizvolle Betrügereien zu verheißen. Venezianische Kurtisanen hatten, was Jago «einen Zauber» nennt, will sagen, sie konnten in Kleidung und Auftreten brillant die respektable Dame spielen, um potentielle Freier anzuziehen und dann doch zu täuschen. Das sind die Zweifel und Ungewissheiten, die Othello beunruhigen und schließlich vernichten.
Überreich verziertes Wappen und Drache, die andere Seite des Glaskelchs.
Für die Londoner Theaterbesucher, die Othello sahen, war diese Vorstellung von einer schönen Frau und zweifelhafter Tugend untrennbar verbunden mit der City. In ganz Europa war das Venedig des sechzehnten Jahrhunderts berühmt für seine Prostituierten, auch der bereits zitierte Thomas Coryate streift das Thema:
«So unendlich sind die Verführungskünste der berühmtesten Calypsos, dass ihr Ruhm aus den entferntesten Gegenden der Christenheit viele nach Venedig zog, die ihre Schönen betrachten und sich ihrer vergnüglichen Tändeleien erfreuen wollten.»
Das gewagte Gewerbe, das in Venedigs Rotlichtbezirken florierte, war die andere Seite der venezianischen Freiheit. Es war die Stadt der unmerklich sich verschiebenden Werteund der leicht zu manipulierenden Stereotypen, wo die junge Desdemona, keusch und rein, damit enden konnte, dass Othello, ihr eigner Ehemann, sie beschuldigt, sie sei die «Dirne von Venedig».
Liebespaar in einer Gondel, aus: Donato Bertelli, Vere imagini et descritioni delle piu nobili citta del mondo , Venedig 1578; der Vorhang der Gondel lässt sich lüften.
Die Bewunderung für diese Stadt im Wasser war unterlegt mit der Furcht vor Verderbnis, vor den Gefahren der Sinnlichkeit und, wie immer, wenn es um Italien ging, vor Gift. 1616 hat der Übersetzer und Schriftsteller Robert Johnson die Fäulnis beschrieben, die er hinter der Schönheit Venedigs lauern sah: «Es überflügelt die Städte mit seinen Bauwerken und seiner äußeren Pracht; doch sobald man genauer hinschaut, aufs einzelne, wird man es sehen als verrotteten Pfahl, nur äußerlich vergoldet.» Schon im England Shakespeares können wir das spätere Stereotyp eines sinistren, dekadenten Venedig erkennen, eben das, was in Thomas Otways 1682, zur Zeit der Stuart-Restauration, aufgeführtem Stück Venice Preserv’d die
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