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Shakran

Shakran

Titel: Shakran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Winter
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haben. Glücklich. Sie sah glücklich aus. Die Nase war nicht ganz gerade, sie hatte ausgeprägte Wangenknochen. Ein interessantes Gesicht, ein Gesicht, das lebendig war, das schon jetzt Charakter besaß.
    Wie alt war sie? Siebzehn, achtzehn?
    Das Mädchen im Spiegel lächelte. Das Kleid, das sie trug, sah teuer aus. Neben ihr stand ein Mann. Er sah sie an. In seinen grünen Augen, die ihren eigenen so sehr ähnelten, stand Stolz geschrieben und dieses Unerklärliche, das man Liebe nennt. Er war um die Mitte vierzig. Groß, breitschultrig, militärisch kurz geschnittene graue Haare. Er war eigentlich zu jung dafür, aber das graue Haar stand ihm. Er trug eine Uniform, Navy, ein Pilot, den Rangabzeichen nach Captain. Sie hatte seine Augen. Auch er hatte Lachfalten, aber auch andere, die von Leid und Entbehrung zeugten, von schwierigen Entscheidungen. Und Grübchen.
    Ihr Vater. Er war stolz auf sie ...
    Diese Erinnerung war wie ein Kleinod für sie. Die Erinnerung hatte diesen ganz eigentümlichen Geschmack, diesen Geschmack einer besonderen Gelegenheit, eines Augenblicks, den man bewusst wahrnimmt und so, genau so, in Erinnerung behalten möchte. Ein tiefes Gefühl von Traurigkeit überkam sie. Er war tot. Wie, wo, wann ... Das wusste sie noch nicht. Aber sie fühlte es.
    Das Bild verschwand. Sie fuhr sich mit der Hand vorsichtig über das Gesicht und wischte eine Träne weg. Keine Grübchen mehr. Die Haut war straff, sie spannte über den Knochen. Die Augen waren anders, der Haaransatz auch.
    Keine Lachfalten mehr. Kein Lachen mehr. Die hohen Wangenknochen, die der jungen Frau in ihrer Erinnerung so viel Charakter verliehen, waren noch da, aber anders, mehr klassisch geformt. Der Chirurg hatte nicht gewusst, wie er die zerschmetterten Knochen hatte formen sollen. Woher auch? Es hatte nur wenige Bilder von ihr gegeben, die als Vorlage hätten dienen können, und die waren unscharf gewesen, kaum zu gebrauchen. Die Nase ... Jetzt, wo sie sich zum ersten Mal an ihr eigenes Gesicht erinnerte, fand sie sich hässlich.
    Nein. Es war nicht ihr Gesicht.
    Jetzt ist es deins. Mach etwas daraus.
    Sie hatte recht, es war das einzige, das sie hatte. Sie hatte es sich mit acht Monaten Schmerzen erkauft. Die Ärzte hatten sie gewarnt, eine der Schwestern hatte sogar versucht, sie daran zu hindern, den Verband abzunehmen.
    Wenn einem immer wieder mit einer Brechstange ins Gesicht geschlagen wird, dann ist das Ergebnis zwangsweise unschön ...
    Sie nickte sich und der unbekannten Frau hinter dem Spiegelbild zu. Sie würde auf all diese Fragen eine Antwort finden.
    Jetzt weißt du, wer du warst. Wie du ausgesehen hast.
    Ann nickte. Richtig. Das war ein erster wichtiger Schritt. Jetzt konnte sie anfangen, sich zu suchen.
    Sie setzte die Kontaktlinsen wieder ein, blinzelte, schenkte sich ein entschlossenes Lächeln und ging in die Küche zurück. Jetzt zitterte ihre Hand nicht mehr, als sie sich Kaffee einschenkte.
    Sie kramte in ihrer Handtasche, holte den Schlüssel heraus, den ihr der Senator so fest in die Hand gedrückt hatte, und legte ihn auf den Tisch neben die Pistole. Warum hatte der Senator ihr den Schlüssel gegeben?
    Sie sah ihn sich an. Ein komplizierter Schlüssel. Wahrscheinlich für ein Bankschließfach. Nein, nicht wahrscheinlich, sondern ganz bestimmt. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie musste das überprüfen. Unbedingt. Der Schaft hatte eine magnetische Kodierung. Eine Nummer war in den Schlüsselkopf eingraviert. 412.
    Am Schlüssel klebten braune Flecken. Das Blut des Senators. Vielleicht auch ihrs, so fest hatte er ihre Hand gedrückt.
    Sie musterte den Schlüssel, dann lachte sie bitter auf. Mit Bankschließfächern kannte sie sich aus. Ihr eigenes Leben stammte aus so einem Schließfach!
    Wieder ging sie ins Badezimmer und machte sich an den Fliesen unter dem Waschbecken zu schaffen.
    Bei der Renovierung des Hauses mussten die neuen Rohre irgendwie verlegt werden. Damit sie nicht störten, hatte man eine Zwischenwand eingezogen, wenige Zentimeter tief. Gerade Platz genug, um dort eine bestimmte Kiste zu verstecken. Sie wollte sie bei sich haben, griffbereit, nicht mehr in einem Bankschließfach wie am Anfang. Damals hatte sie extra eins gemietet. In Washington. Sie zog die Kiste heraus, wischte den Staub ab, ging zurück in die Küche und stellte sie zu den anderen Dingen auf den Tisch.
    Eine einfache Metallkiste, nicht viel größer als eine Keksdose. Sie enthielt so viele Fragen, so viele Ungereimtheiten,

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