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Shakran

Shakran

Titel: Shakran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Winter
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Erinnerung an den Mann, wie sie ihn erschossen hatte, ausgerechnet diese eine war messerscharf und glasklar. Sie wusste sogar, was sie empfunden hatte, damals, wann immer das gewesen war. Genugtuung. Kein bisschen Mitleid. Zu klar waren diese Erinnerungen, sie konnten kein Traum sein. Irgendwann, irgendwo hat sie einen Mann im Smoking erschossen. Sie war eine Mörderin.
    Sie sah sich im Spiegel an.
    So fremd ihr das Gesicht auch immer noch erschien, sie konnte sich nicht beschweren, es war so gut wie perfekt. Sie hatte damals Glück im Unglück gehabt. Sie war in der Lage gewesen, sich einen der besten plastischen Chirurgen von San Francisco zu leisten. Ihr Gesicht war eine Maske, eine Neuschöpfung. Ein Dutzend Operationen. Noch so eine Erinnerung, die sie gerne vergessen würde. Der Beginn eines neuen Lebens. Mit einer Maske.
    Bis heute Mittag hatte sie sich für eine Person gehalten, die nach moralischen Grundsätzen handelt. Sie hatte den Unterschied gekannt zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht. Andern sich die moralischen Grundsätze, wenn man das Gedächtnis verliert?, fragte sie sich. Sie hatte keine Ahnung, aber sie hoffte, nicht.
    Sie sah sich im Spiegel an, aus einem Impuls heraus entfernte sie die Kontaktlinsen und wusch die Schminke ab. Grüne Augen sahen sie an. Seit Jahren schon trug sie die dunklen Kontaktlinsen, färbte sich das Haar mausbraun. Ein grünäugiger Rotschopf fiel auf. Und auffallen wollte sie auf keinen Fall.
    Ohne die Kontaktlinsen wirkten ihre Augen nicht mehr weich, sondern offen, klar. Kalte, kühle Augen. Sachlich. Vielleicht war das nur Einbildung, vielleicht war sie zu kritisch mit sich selbst. Sie löste den Knoten und ließ die Haare offen fallen, versuchte das Gesicht zu finden, das einmal ihres gewesen war, bevor man sie aus dem Wasser gezogen hatte.
    Die grünen Augen schienen ein wenig zu lächeln. Dieses Bild im Spiegel war ihr vertrauter als die braune Maus, hinter der sie sich normalerweise versteckte.
    Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sie noch nie versucht hatte, herauszufinden, wer sie war, warum man sie hatte ermorden wollen.
    Sie hatte Angst davor. Eine unergründliche, tief verwurzelte Angst.
    Immerhin gibst du es zu.
    Auch jetzt spürte sie diese Angst. Aber irgendetwas stellte sich dieser Angst entgegen. Sie war jetzt wie alt? Neunundzwanzig. Wenn sie ihren Papieren glauben konnte. Es wurde also langsam Zeit. Der Unterschied war, sie wusste jetzt, vor wem sie Angst hatte. Die Angst hatte ein Gesicht. Der Mann aus Rom. Irgendwie machte es das einfacher.
    Die letzten acht Jahre hatte sie ein Leben gelebt, das sie sich ausgesucht hatte, das ihr gefiel. Sie hatte eine sehr gute Bildung, hatte wahrscheinlich studiert. Nach dem zu urteilen, was sie wusste, was sie in ihren Unterlagen fand, war sie immer schon Lehrerin gewesen.
    Es war ein schönes Leben, ein Leben, das ihr gefiel, wenigstens sagte sie sich das immer wieder, ein Leben mit Verantwortung und Freude. Ein bequemes Leben.
    Die innere Stimme hatte recht. Sie hatte schon immer gewusst, dass etwas nicht stimmte, dass etwas nicht stimmen konnte. So vieles hatte sie nicht gewusst, so vieles hatte sie lernen müssen, nur ihr perfektes Gedächtnis hatte es ihr ermöglicht, das fehlende Wissen zu überspielen, die Kollegen und die Schüler zu täuschen, bis sie alles nachgeholt, alles gelernt hatte, was sie brauchte. Und dann hatte sie verdrängt, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie nicht gewusst hatte, was eine Lehrerin hätte wissen müssen.
    Sie wusste noch etwas. Sie wollte dieses Leben. Sie wollte Ann Mankowitz sein, die Lehrerin. Sie hatte sich dafür entschieden, und so war es richtig.
    Doch wenn sie dieses Leben wirklich wollte, wenn es vollständig sein sollte, dann musste sie endlich aufhören, davonzurennen, dann musste sie herausfinden, wer die andere war, die, die sie vorher gewesen war.
    Die Ärzte hatten gesagt, sie wäre fast drei Minuten lang tot gewesen. Sie musterte sich sorgfältig im Spiegel. Irgendwo unter der Maske war ihr wahres Ich verborgen.
    Bist du endlich bereit, dich selbst zu sehen? Also gut ...
    Eine andere Erinnerung stieg in ihr hoch, und diesmal gab es keine Wand, als sie Halt suchte.
    Sie stand vor einem anderen Spiegel. Sie war jung, fast noch ein Teenager. Sie hatte rote Haare, richtig lange rote Haare, bis zur Hüfte. Grüne Augen, einen vollen Mund und Grübchen. Lachfalten in den Augenwinkeln. Man muss viel lachen, um in dem Alter schon Lachfalten zu

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