Shana, das Wolfsmädchen
schöner und ergreifender klang. Oft kamen ein paar Kinder und lauschten. Sie setzten sich auf die Stufen, mit blinzelnden Augen, wachsam. Um ihnen eine Freude zu machen, spielte ich Lieder, die sie kannten. Aber ich war auch in der Lage, selbst erfundene Melodien zu spielen, was den Kindern ebenso viel Spaß machte wie mir.
War mein Vater zu Hause, übte ich nie. Warum, konnte ich nicht erklären. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Natürlich sah er die Geige, verlor aber kein Wort darüber. Niemals sagte er: »Spiel mir etwas vor!« Ich war ihm dankbar dafür. Am glücklichsten war ich, wenn ich allein war. Dann vergaß ich die Realität, verlor den Kontakt zu dem, was wir Wirklichkeit nennen. Die Musik trug mich auf unsichtbaren Flügeln, hinauf über die hohen Espen, noch weiter empor. Ich umkreiste ganze Berghänge, tauchte in ferne Täler hinab, trieb mühelos durch Wolkenfelder. Das waren bloß Empfindungen und doch erlebte ich auf diese Weise eine unglaubliche, intensive Kraft. Und es kam vor, dass ich vor Morgengrauen verschwommene Geräusche hörte, unbestimmte Bewegungen vor der Tür, als ob ein schemenhaftes Wesen zwischen Haus und Wald umherschlich. Aber ich sah nie etwas, nicht einmal eine Spur am Boden; wahrscheinlich hatte ich nur verrückte Träume.
In der Schule wurde es nicht besser, im Gegenteil. Ich wusste überhaupt nicht, was ich auf der Schulbank machte. Mein Kopf war ständig damit beschäftigt, meine Übungsaufgaben Note für Note durchzugehen. Ich hatte festgestellt, dass es reichte, ein Musikstück einmal zu hören, um es spielen zu können. Lela wunderte sich weniger darüber als ich.
»Es gibt Leute, die das können.«
Im Unterricht hatte sie begonnen besondere Stücke für zwei Violinen mit mir zu spielen. Nachdem Lela den Takt angegeben hatte, begannen wir das Spiel gemeinsam. Und immer wieder erlebte ich den magischen Augenblick, da Lela sich verwandelte, von einem Atemzug zum anderen groß und gebieterisch wurde. Ihr Können war etwas, das mich zutiefst erschütterte. Ich musste mich gewaltig zusammennehmen, um nicht aus dem Takt zu kommen. Und so spielten wir dann und allmählich verlor ich meine Hemmungen. Unsere Übereinstimmung wuchs, das sah ich an ihrem Lächeln, an den Blicken, die sie mir zuwarf. Manchmal schloss sie ihre Augen, als spielte sie mit abwesendem Geist. Das war genau der Augenblick, in dem ich mein Bestes geben musste. Im Laufe der Wochen schien sich der Abstand zwischen uns zu verringern, obwohl ich längst nicht über ihre Fähigkeit verfügte und noch kaum ein Stück auswendig beherrschte. Es war ein großes Gefühl, das Lela und mich verband, aber Lela sprach nie darüber und ich – ich wusste nicht, wie ich es hätte ausdrücken können.
10. KAPITEL
Eines Tages, im Frühsommer, als heißes Licht durch die Zweige der Bäume drang, sagte Lela nach dem Unterricht: »Komm, setz dich! Ich mache uns einen Tee.«
Sie hantierte in der Küche. Nach ein paar Minuten kam sie mit der dampfenden Teekanne zurück, setzte sich zu mir an den Tisch und füllte die Tassen. Der mit Honig gewürzte Hagebuttentee war wunderbar süß. Ich pustete in die Tasse und schlürfte ihn mit Behagen. Im Zimmer summte eine Wespe, suchte das offene Fenster. Als sie draußen war, wurde es sehr still. Nur in der Ferne ratterte ein Bagger, irgendwo wurde eine Straße ausgebaut. Ich dachte kummervoll, dass sie mir jetzt wahrscheinlich sagen würde, sie könne mich nicht mehr unentgeltlich unterrichten. Aber das machte nichts. Bald waren Ferien und ich würde mir einen Job suchen. Lieber bis spät in der Nacht arbeiten als auf den Geigenunterricht verzichten.
Nach einer Weile brach Lela das Schweigen.
»Hast du schon etwas für die Zukunft geplant?«
Diesem Gespräch wäre ich am liebsten aus dem Weg gegangen.
»Eigentlich nicht.«
»Für einen Studienplatz reicht es für dich nicht«, meinte Lela im sachlichen Ton. »Das kann ich dir schon jetzt sagen.«
Ich zog die Schultern hoch.
»Ich weiß, dass ich nicht die Hellste bin.«
Jetzt unterdrückte sie ein Lächeln.
»Du könntest gut lernen, wenn du nur wolltest. Aber du willst nicht. Du hast ständig anderes im Kopf.«
Ich zog erneut die Schultern hoch. Sie drängte weiter, auf eine Art, die mir peinlich war.
»Nun sag schon! Was willst du später machen, wenn du mit der Schule fertig bist? Hast du eine genaue Vorstellung?«
»Ich kann an der Tankstelle arbeiten. Oder im Supermarkt.«
Lela verzog den Mund.
»Man sieht
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