Shana, das Wolfsmädchen
dir doch von weitem an, dass dir die Sache nicht liegt.«
Ich schwieg befangen. Sie nahm einen Schluck Tee.
»Gibt es etwas im Leben, das wichtig für dich ist?« Ich sagte rau: »Geige spielen.«
Ihr Augen funkelten ironisch.
»Ist das alles?«
Ich knetete meine Hände. Was sollte ich darauf antworten? Lela trank seelenruhig ihren Tee.
»Hör zu. Ich habe nachgedacht. Du taugst wirklich nicht viel in der Schule. Du willst nur Geige spielen. Und du hast Recht. Das ist eine Sache, die du besser kannst als die meisten. Vielleicht sogar besser als ich.«
Ich hob ruckartig den Kopf.
»Woher wissen Sie das?«
Das konnte doch nicht wahr sein. Sie machte sich über mich lustig! Doch sie blickte mich ganz ernst an.
»Ich habe es festgestellt.«
Schön. Aber was nun?
»Ich werde sparen«, sagte ich. »Und mir eine Geige kaufen. Und spielen. In der Freizeit und abends, wenn mein Vater nicht da ist.«
Sie zog die Stirn kraus.
»Warum, wenn dein Vater nicht da ist?«
Ich schluckte.
»Weil er … weil er gesagt hat, dass er früher auch gut spielte.«
»Er meinte also, dass du das Talent von ihm geerbt hast?«
Ich nickte. Sie ließ mich nicht aus den Augen.
»Deswegen soll er nicht zuhören, wenn du spielst?« Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Das ertrage ich nicht.«
»Was hast du gegen deinen Vater?«, fragte sie sanft.
»Bist du ihm böse, weil er trinkt?« Irgendwie musste ich meine Beklemmung loswerden.
»Früher, da war er nicht so. Aber seitdem meine Mutter tot ist, hängt er ständig in der Kneipe herum und kotzt ins Badezimmer. Ich mache das nicht sauber, ich nicht!«
»Verlangt er das von dir?«
»Nein. Nie. Er macht das immer selbst.«
»Siehst du. Das ist das Zeichen, dass er dich liebt.« Ich antwortete nicht. Lela betrachtete mich sinnend.
»Ich glaube, er ist wirklich sehr unglücklich. Vielleicht könntest du ihm helfen, indem du ihn mehr in deine Welt ziehst?«
Ich starrte verstockt an ihr vorbei. Im Augenblick war das alles zu viel für mich.
»Stimmt das, was er gesagt hat? Dass ich das Geigenspiel von ihm habe?« Sie nahm einen Schluck Tee.
»Das ist eine schwierige Frage. Ja, Talent kann ein Erbe sein, doch meistens ist es eine Gabe. Unsere Seele kommt von weit her. Wer weiß, was früher war? Die Vorfahren greifen in unser Leben ein, ob wir es wollen oder nicht.«
»Wie?«, fragte ich.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte Lela.
»Kurz vor meinem Unfall träumte ich von meiner Großmutter. Ich sah sie als junge Frau vor meinem Bett stehen. Ihr schönes Gesicht war voller Kummer. ›Ich bin traurig‹, hörte ich sie sagen. ›Die Wölfin hat sich verletzt. Und bald wird es Winter. Lauf nicht über das Eis!‹ Ich erwachte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Was hatte Sunke Nagi sagen wollen? Eine Begebenheit von früher fiel mir ein: Sunke Nagi hatte eine Wölfin aus einer Falle gerettet. Das Vorderbein des Tieres war bis zum Knochen durchgescheuert. Sunke Nagi näherte sich furchtlos der Wölfin, befreite sie und pflegte ihre Wunde. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte keine Verbindung zwischen mir und dieser Geschichte sehen, überhaupt keine. Und als der See zufror und wir zum Schlittschuhlaufen gingen, hatte ich den Traum vergessen. Später kam er mir wieder in den Sinn – und da war nichts mehr zu ändern.«
Ich bekam eine Gänsehaut.
»Ist das wirklich wahr, dass die Toten mit uns reden?«
»Es kommt vor, ja. Menschen mit großer Kraft bringen seltsame Dinge zu Stande. Sie geben uns Zeichen, die gesehen oder gehört werden können. Es sind Warnungen,die einer ganz bestimmten Sache dienen. Aber wir haben unseren eigenen Kopf und wollen die Zeichen nicht sehen.«
Melanie?, dachte ich. Vielleicht gibt sie mir auch Zeichen, irgendwie. Bloß erkenne ich sie nicht. Inzwischen hob Lela die Kanne und goss mir frischen Tee ein.
»Und jetzt hör zu, Shana. Ich habe an der Musikhochschule in Vancouver studiert. Der Direktor, Robert Castaldi, ist ein bekannter Violinist. Ursprünglich stammt er aus Frankreich. Castaldi ist ein Mensch, der nur für die Musik lebt. Ich werde ihn anrufen und ihn bitten, ob du bei ihm vorspielen kannst. Wenn er es für angebracht hält – und ich habe keinen Grund, das zu bezweifeln –, wird er ein Stipendium für dich beantragen. Er ist der beste Lehrer, den ich kenne. Er wird dich unterrichten und das richtige Studienprogramm für dich aufstellen.«
Mein Herz klopfte so fest an die Rippen, dass es schmerzte.
»Und … dann
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