Shana, das Wolfsmädchen
fiel der erste Regen. Er kam mit großem Krach und Donnerrollen, die Blitze erhellten die Wälder wie Leuchtfeuer. Dann hörte man tagelang nur das schwere Rauschen des Wassers. Als ich mit dem Fahrrad zum Unterricht fuhr, kämpfte ich aus Leibeskräften gegen die Windstöße an. Der Regen floss wie aus riesigen Himmelskübeln und meine Hände auf der Lenkstange waren steif und rot, unter dem Ölmantel klebten die durchnässten Jeans kalt an den Beinen. Der Winter! Ich fühlte, dass er ganz nahe war, und hatte aus irgendeinem Grund ganz entsetzliche Angst.
»Komm bei diesem Wetter lieber nicht mit dem Fahrrad«, sagte Lela, als ich auf der Veranda meine Gummistiefel von den Füßen schüttelte.
Ich strich mein nasses Haar aus dem Gesicht.
»Macht mir nichts aus.«
»Aber nicht bei Glatteis!«, erwiderte Lela, im schroffen Ton. »Du sollst keinen Unfall riskieren!«
Mir fiel auf, wie blass sie war, mit Schatten unter den Augen und um der Nase. Sie ging schwerfällig vor mir die Treppe hinauf, wobei sie das linke Bein etwas nachzog.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragte ich.
Sie wandte den Kopf. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Nein. Wieso?«
Sie öffnete die Tür zum Erkerzimmer und setzte hinzu: »Heute spielen wir zusammen.«
Sie öffnete mit einem kleinen metallischen Schnappen das Schloss ihres Geigenkastens. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein. Sie hob den Deckel hoch. Im Licht glänzte die Geige wie dunkler Chinalack. Lela ergriff Geige und Bogen, liebevoll und mit großer Ehrfurcht.
»Wir spielen das Konzert von Max Bruch«, sagte sie.
»Das Adagio.«
Ich fuhr leicht zusammen.
»Aber das ist doch viel zu schwierig für mich! Ich habe zu wenig geübt.«
»Du schaffst es schon.«
Meine Zähne gruben sich in die Unterlippe.
»Und außerdem ist das Stück so traurig!«
»Traurig?« Ihre goldenen Augen, auf die Geige gerichtet, blickten mich traumverloren an. »Wie kommst du darauf, dass es traurig sein könnte?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nie sagen, wie es in mir aussah. Inzwischen machten wir die Instrumente bereit. Ich nahm die Geige in den Arm und stimmte sie. Lela gab den Takt an, nickte mir zu und begann zu spielen. Mir verschlug es beim Zuhören fast den Atem, so dunkel, so golden war der Ton. Seltsam, dachte ich, irgendwas in meiner Brust tut mir weh. Als mein Bogen die Saiten berührte, öffnete ich vor Schmerz ein wenig die Lippen. Mein Strich klang anders als der von Lela, viel heller und klarer, aber zusammen hörte es sich noch wunderbarer an. Wie stets, wenn Lela spielte, wirkte sie größer, als sie eigentlich war, aber diesmal hatte ich das Gefühl, dass sie keine Frau aus Fleisch und Blut war, sondern ein Geist, ein Wesen aus Dunkelheit. Das kam wohl daher, weil inzwischen Schatten das Zimmer erfüllten und sie im Gegenlicht stand. Und so spielten wir das Adagio, das alle Schmerzen und Sehnsüchte dieser Welt in einem einzigen melodischen Bild verschmilzt. Und gleichzeitig sang die Musik von Hoffnung und Trost, sprach von Liebe, von bleibendem Leben. Und als Lela endlich den Bogen senkte, fiel ein Lichtschimmer auf ihr Gesicht, das wieder ganz entspannt war, als habe sie, nach schweren Gedanken, endlich Frieden gefunden. Eine Weile schwiegen wir beide, vereint im selben Empfinden. Dann lächelte sie mir zu. Ich sah das flüchtige Aufblitzen ihrer Zähne.
»Es war doch gar nicht so schwer, oder?«
Ich holte gepresst Atem.
»Ich habe lausig gespielt.«
»Nein, das hast du nicht. Du hast den Fingerakzent nicht ganz an der richtigen Stelle eingesetzt, was das Vibrato zu wenig intensiv machte. Aber das kommt schon. Ich wollte Bruch schon lange mal wieder spielen, aber ich war nie in der richtigen Stimmung dazu.«
Sie legte behutsam die Geige in den Kasten zurück, blickte mit einem kleinen Seufzer zum Fenster hinaus. Der Regen prasselte, Tropfen hingen zitternd an der Scheibe. In großer Höhe über dem Haus hörte ich plötzlich Vögel kreischen.
»Zwergschwäne«, sagte ich. »Sie ziehen nach Süden.«
Lela rieb mit den Fingern an dem Glas, als könnte sie die Tropfen wegwischen.
»Es ist noch warm«, murmelte sie.
»Sobald Sturm aufkommt, friert es. «
Sie neigte den Kopf, lehnte die Stirn an die dunstige Scheibe.
»Ich mag den Winter nicht«, sagte sie tonlos. »Ich habe ihn nie gemocht.«
12. KAPITEL
Am nächsten Tag kam Nebel auf, drückte dumpf und weiß auf die Dächer. Die Regentropfen schienen irgendwie aus dem Weiß zu fallen wie aus dem Nichts.
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