Shana, das Wolfsmädchen
Wölfin. Obwohl diese Tiere für gewöhnlich die Menschen meiden, ließ sich die Wölfin von dem Kind streicheln. Lela verschwendete keinen Gedanken an mögliche Gefahren und merkte nicht, wie sie sich immer weiter vom Lager entfernte. Die Kinder spielten oft am Waldrand und anfänglich machten sich die Eltern keine Sorgen. Erst als es Abend wurde, suchten sie beunruhigt ihr Kind. Ein Junge sagte: ›Lela hat eine Wölfin gefunden und spricht mit ihr, als ob sie ein Mensch wäre.‹ Und wahrhaftig: Bald entdeckten die Eltern die Spur einer Wölfin und daneben einen kleinen Fußabdruck. Die Spur führte den Fluss entlang, tief in den Wald. Es wurde mit jedem Augenblick dunkler und die Besorgnis der Eltern wuchs. Auf einmal entdeckten sie im letzten Tageslicht eine Höhle. Das Mädchen lag unter einem Felsen und schlief. Die entsetzten Eltern dachten zuerst, die Kleine sei tot. Doch Lela erwachte und lächelte sie an. Sie erzählte, die Wölfin habe sie zu dieser Höhle geführt, wo sie eigene Welpen hatte. Lela hatte mit den Jungen gespielt, bis sie müde wurde. Die Wölfin und ihre Welpen wurden nicht gefunden, aber eine Anzahl größere und kleinerer Spuren zeigte, dass Lela die Wahrheit sprach. Die verstörten Eltern brachten ihr Kind ins Lager zurück und Reina, die Stammesälteste, sprach: ›Die Kleine wird von den Wölfen geliebt. Fortan soll sie Sunke Nagi heißen.‹ Sunke Nagi ist ein sehr ehrenvoller Name, eigentlich verdienstvollen Kriegern vorbehalten. Jeder im Lager wunderte sich, aber Reina sagte, das Erlebnis habe das Kind auf eine Art und Weise verändert, die jetzt noch keiner verstehen könne. So erwarb meine Großmutter ihren Namen. Und später, als die Eltern mit ihr nach Seattle zogen, erfüllte sich Reinas’ Weissagung vollkommen. Sunke Nagi begann mit fünfzehn zu malen. Einige Jahre später stellte sie in Galerien aus, erhielt etliche Preise. Kunstkritiker und Sammler waren auf sie aufmerksam geworden. Sie zählte bald zu den namhaften amerikanischen Künstlern. Aber bis zu ihrem Lebensende blieb sie sich selbst treu – und malte nur Wölfe. Wenn sich ein Wolfsrudel irgendwo in den Wäldern aufhielt, kannte sie genau die Stelle und betrat mit ihrem Skizzenbuch furchtlos ihr Jagdrevier. Sie beobachtete die Tiere, tagelang und völlig unbehelligt. Es war, als ob sie ihre Sprache verstand.
Dann stellte sie sich vor ihre Staffelei und malte die Wölfe nach ihrer Vision.«
Ich fragte lebhaft: »Haben Sie gesehen, wie sie mit den Wölfen sprach?«
Lela lächelte bedeutsam.
»Ja, deswegen wollte ich Geige spielen.«
Ich blickte sie fragend an. Lela fuhr fort: »Die Geigenklänge sind es, die der Tonlage des heulenden Wolfes am nächsten kommen. Das vermag kein anderes Instrument.«
Mir kam etwas in den Sinn.
»Als ich zum ersten Mal die Geige hielt, musste ich an ein kleines Tier denken. Ist das nicht komisch?«
»Komisch? Vielleicht. Und doch wieder auch nicht. Alles, was sich unabhängig von unserem Willen in uns vollzieht, raubt uns erst mal den Atem. Wir müssen lernen, damit umzugehen.«
»Ich habe keine Angst«, sagte ich.
Sie machte ein Gesicht, als ob sie verstört war und es zu verbergen versuchte.
»Du und ich, wir scheinen wirklich etwas gemeinsam zu haben.«
Ich wagte es nicht, ihr mit »Ja« zu antworten, und sagte stattdessen: »Ich glaube, ich habe einen Wolf gehört.«
Sie hob die fein geschwungenen Brauen.
»So nahe am Dorf? Bist du sicher, dass es nicht ein Hund war?«
»Nein. Hunde heulen ganz anders.«
»Ja, das stimmt. Du hast ein gutes Gehör. Wann war das?«
Ich wurde etwas rot.
»Im Sommer, am Powwow-Fest, als ich Sie zum ersten Mal sah. Sie trugen das Zeichen des Wolfes auf Ihrem Kleid. Das ist mir aufgefallen.«
»Das Kleid hat Sunke Nagi angefertigt«, sagte Lela.
»Ich denke immer an sie, wenn ich es trage.«
Um ein Haar hätte ich ihr von Melanies Kleid erzählt. Ich biss mir hart auf die Lippen. Nein, das durfte ich Elliot nicht antun!
»Warum hängt kein Bild von den Wölfen im Wohnzimmer?«, fragte ich hastig, um mich auf andere Gedanken zu bringen. »Dort würden sie besser zur Geltung kommen.«
Ein kleines Lächeln hob ihre Lippen.
»Ich habe sie entfernt. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Leute Angst vor den Bildern hatten!«
»Aber warum bloß?«
Lelas Blick glitt an mir vorbei in die Ferne.
»Wölfe tragen in sich eine gewaltige Zauberkraft. Sie waren lange vor den Menschen da und sind mit den Erdkräften verbunden. Wir Indianer
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