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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Pupillen klärte sich. Vor mir stand ein älterer Mann, hoch gewachsen, aber schmal, beinahe dünn. Das Haar war weiß, fast silbern glänzend, sodass der blasse Schädel an manchen Stellen durchschimmerte. Der Mann betrachtete mich mit einer Art ironischem Wohlwollen.
    »Eine schlafende Schülerin, bei diesem Lärm! Wie bringst du das fertig?«
    Seine Überraschung war durchaus begründet: Stimmengewirr und unzählige Schritte hallten von allen Seiten. Erschrocken sprang ich auf die Füße, griff nach dem Geigenkasten.
    »Es … es tut mir Leid.«
    »Keine Ursache. Schlaf ist gesund.«
    Sein Ausdruck war sanft und belustigt. Das Alter hatte einige sandbraune Flecken in die helle Haut gestempelt. Sie waren auch auf der langen, feingliedrigen Hand sichtbar, die er mir jetzt reichte.
    »Robert Castaldi«, stellte er sich vor, wobei er meine Hand herzlich drückte. »Und du bist Shana, wenn ich mich nicht täusche?«
    Ich nickte.
    »Ich … ich habe vergessen,dass ich Sie vorher anrufen sollte.«
    »Das ist weiter nicht schlimm, ich konnte einen Termin verschieben. Komm!«
    Er zeigte mir den Weg. Trotz seines Alters war sein Schritt schnell und elastisch. Er führte mich eine Treppe hinauf, öffnete eine Tür. Das Übungszimmer war nüchtern eingerichtet, enthielt nur ein großes Klavier, einen Notenständer, einen Tisch und ein paar Stühle.
    »Setz dich!«
    Castaldi nahm mir gegenüber Platz, musterte mich mit aufmerksamen, braunen Augen. Er besaß eine nach innen gekehrte Ruhe und etwas Schelmisches, Koboldenhaftes zugleich. Dieser Zwiespalt machte ihn zugänglich und ich fühlte mich weniger befangen.
    »Erzähl mir von dir«, sagte er.
    Ich fing an zu sprechen, zuerst zögernd, dann mit zunehmender Sicherheit. Castaldis Augen wirkten geistesabwesend, konnten jedoch, von einem Atemzug zum anderen, mit intensiver Schärfe funkeln. Seine Aufmerksamkeit machte mir Mut. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt von meinem Vater zu reden, doch er lockte jedes Wort aus mir heraus. Zehn Minuten später wusste er alles über mich: Er musste eine Art Zauberer sein. Aber was, wenn er mich jetzt vor die Tür setzte oder die Polizei anrief?
    Doch er ließ nur einen merkwürdigen Laut hören. Ich starrte ihn verwundert an. Hatte der Mann gelacht?
    »Zweihundert Dollar! Offenbar ist dein Vater kein guter Geschäftsmann.«
    Wie meinte er das? Ich wagte nicht zu fragen. Er sprach mehr zu sich selbst, im höchst amüsierten Ton noch dazu. Jetzt wandte er sich wieder an mich: »Ich kenne die Geige, ein sehr wertvolles Stück. Sie ist sogar unter einem ganz besonderen Namen bekannt.«
    Er machte eine bedeutsame Pause. Ich sah ihn neugierig an.
    »Man nennt sie ›Die Wölfin‹«, sagte Castaldi.
    Ein Schauer überlief mich.
    »Ist das wirklich wahr?«
    Er nickte.
    »Der Geigenbauer, Luigi San Pietro, stammt aus den Abruzzen. Das ist eine Bergkette mitten in Italien, nicht weit von Rom entfernt. San Pietro weihte die Geige jener Wölfin, die Romulus und Remus, die sagenhaften Gründer Roms, aus den Fluten des Tiber rettete, säugte und aufzog. Er schmückte die Geige mit einem Wolfskopf. Von diesem Instrument gibt es kein zweites auf der Welt.«
    Ich schluckte mühsam.
    »Wir kam sie in Lelas Besitz?«
    »Durch Sunke Nagi, Lelas berühmter Großmutter. Sunke Nagi hatte eine Zeit lang in Rom mit einem Italiener gelebt, einem Musiker. Er starb an Tuberkulose. Bei seinem Tod vererbte er ihr seine Geige, genauso, wie Lela sie dir vermachte. Man vererbt solche Geigen nicht grundlos, musst du wissen.« Ich biss mir auf die Lippen.
    »Dann sind Sie mir nicht böse, weil ich … weil ich die Geige gestohlen habe?«
    Er ließ ein Glucksen hören.
    »Um die Wahrheit zu sagen, die Geschichte macht mir großen Spaß. Aber falls dein Gewissen dich plagt, kannst du ja später, wenn du berühmt bist, dem Sägereibesitzer zweihundert Dollar schicken. Von mir aus mit Zinsen, dann bist du quitt.«
    Ich senkte verstört die Augen. Er schmunzelte.
    »Willst du mir nicht etwas vorspielen? Ohne Noten, schaffst du das?«
    »Ich … ich will es versuchen.«
    Er beobachtete mich genau, während ich den Kasten öffnete und die Geige herausholte.
    »Was soll ich spielen?«
    »Das kommt auf dich an.«
    »Eine Etüde von Kreutzer?«
    Er hob die Brauen mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht.
    »Na schön.«
    Nachdem er den Takt vorgegeben hatte, lehnte er sich zurück, wobei er beide Arme über die Brust verschränkte. Ich dachte, es ist schrecklich, ich bin völlig

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