Shane - Das erste Jahr (German Edition)
Manteltaschen.
Die Kofferraumtür knallte zu.
„Manfred!“, brüllte die Mutter.
Shane verdrehte die Augen. Sie schielte durch das Autofenster nach oben, zu ihrem Zimmer.
Wie sehr wünschte sie jetzt die schützende Dunkelheit ihres Kleiderschrankes herbei. Doch dieses Opfer musste sie heute bringen.
Der Vater setzte sich ans Steuer. Er drehte sich um. „Nanu, Shane, wie schön, dass du uns mal wieder mit deiner Anwesenheit beehrst.“
Die Mutter schnallte sich an. Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Als sie auf dem Parkplatz einbogen, bereute Shane schon fast ihre Entscheidung. Menschen über Menschen, Wägen über Wägen, Idioten über Idioten. Shane verzog das Gesicht und schnallte sich ab.
Sie gingen durch den Gang mit den Konserven. Timmy schob den Wagen, besser gesagt, er hing dran und sah völlig bescheuert aus in seinem neongrünen Schneeanzug. Shane starrte auf den Zettel in ihrer Hand. „K…i…r…schen.“
„Super, Shane!“, rief die Mutter begeistert und griff nach den Gläsern im Regal.
„Shane kann lesen!“, krähte Timmy.
„Halt bloß die Klappe, Idiot!“, zischte Shane.
„Mama, Shane hat Idiot gesagt!“
Shane entdeckte das Regal, nach dem sie Ausschau gehalten hatte. „Mama, ich hole mir nur schnell etwas.“
Sie drückte der Mutter den Zettel in die Hand und ging los.
Vor dem Regal blieb sie stehen. Sie flog mit den Augen über die Reihen. Es gab eine riesige Auswahl. Shane streckte die Hand aus. Sie entschied sich für die Stangen, drei Zehnerpacks, griff danach und drehte sich um.
Vor ihr stand die Mutter. Sie schaute auf den Kaugummi in Shane’s Hand und runzelte die Stirn. „Geht es deinem Kiefer besser, Shane?“
Shane nickte beschämt. „Ja.“
Die Mutter schaute verwundert. Dann zuckte sie mit den Achseln. „Dann schien der Arzt wohl recht gehabt zu haben, was?“
Shane nickte wieder.
„Nun, komm, wir brauchen noch Obst und Gemüse. Habt ihr schon das Z gelernt, Shane?“
Shane stieg aus dem Auto aus. Die bunten Stangen hielt sie noch immer in der Hand. Sie blickte sich um.
„Hilfst du bitte beim Ausladen, Shane?“
„Gleich!“ Shane schaute an sich hinunter. Sie öffnete den Mantel. In der rechten Innenseite gab es drei Reihen mit je vier Schnallen.
Shane steckte eine Stange in eine Schnalle. Passte perfekt. Sie steckte die anderen ebenfalls in zwei Schnallen und knöpfte den Mantel wieder zu.
Wie eine rote, durchschimmernde Haut legte sich die Plane über das Zirkusskelett.
Shane betrachtete die Menschen um sich herum. Die grellen Scheinwerfer brachten sie zum Schwitzen, die meisten liefen in kurzen Kostümen herum, das Dach des Zirkus’ zauberte einen roten Schimmer auf ihre Haut.
„Und jetzt: Hopp!“ Der Mann mit der roten Strumpfhose reichte ihr seine Hand, sie stemmte sich hinauf und versuchte auf dem riesigen Ball das Gleichgewicht zu halten. „Nicht stehenbleiben, Miss Shane, nicht stehenbleiben, immer tippeln, immer tippeln!“
Shane hielt sich verkrampft an der Hand fest. Der Ball unter ihren Füßen rollte vorwärts, sie kippte hintenüber und fiel in staubende Sägespäne. Sie prustete.
Rotbein hockte sich neben sie. „Du musst auf deinen Körper hören, höre in ihn hinein. Er wird dir den Takt vorgeben. Und dann wird der Ball nur dorthin rollen, wohin du das wünschst, Miss Shane. Nur dorthin, wohin du das wünschst.“
Shane blickte ihn an. Dann nahm sie seine Hand und stand auf. Sie klopfte sich die Hose ab und sah sich nach dem Ball um.
„Mach nun eine Pause, Shane. Wir probieren es später noch einmal.“ Er zwinkerte ihr zu und drehte sich um.
Shane schaute ihm nach. Er lief zu zwei Jungen, den Rambokumpane, die sich ebenfalls an dem riesigen Ball zu schaffen machten. Shane seufzte. Sie wollte unbedingt lernen, auf dieser Kugel zu laufen, zu balancieren. Sie stellte sich vor, wie sie einen riesigen Bogen durch die Manege auf dem Ball laufen würde, wie sie ihn dirigieren würde, nur mit ihren Füßen.
Shane seufzte noch einmal, drehte sich um und ging zu dem Hauptgang hinaus.
Sie lief zwischen Ställen und Zäunen entlang in ein anderes kleineres Zelt, in dem die Kinder sich stärken konnten. Sie ging an einen der Klapptische, nahm sich ein Sandwich und schenkte sich einen Tee ein.
„Hallo.“
„Hallo.“ Zwei sommersprossige Mädchen, kaum älter als sie selbst, gingen an Shane vorbei.
Helena und Valentina. Sie waren Zwillinge. Shane blickte ihnen hinterher. Sie kannte sie seit dem ersten Tag, an
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