Shannara I
Handumdrehen. Die Soldaten waren binnen Augenblicken gefesselt und geknebelt, und man schleppte sie in einen Winkel des Kellers, wo sie den neugierigen Blicken entzogen waren. Stenmin wurde hochgerissen und seinen Gegnern gegenübergestellt. Menion warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tür an der Steintreppe, aber nichts rührte sich. Der Schrei Stenmins war offenbar ungehört verhallt. Balinor und die anderen traten freudestrahlend auf Menion zu, hieben ihm auf die Schulter und schüttelten ihm die Hand.
»Menion Leah, wir schulden Euch mehr, als wir je wiedergutmachen können«, sagte Balinor. »Ich dachte nicht, dass wir Euch wiedersehen würden. Wo ist Allanon?«
Menion berichtete kurz, dass er Allanon und Flick in einem Versteck über dem Lager des Nordland-Heeres zurückgelassen habe und nach Callahorn gekommen sei, um die Stadt vor dem drohenden Angriff zu warnen. Während er Stenmin hastig knebelte, damit der Mystiker nicht ein zweites Mal versuchen konnte, Alarm zu schlagen, schilderte der Hochländer, wie er Shirl Ravenlock gerettet hatte und nach Kern und schließlich nach Tyrsis geflohen war, nachdem die Inselstadt ein Opfer der Flammen geworden war. Seine Freunde hörten mit grimmigen Mienen zu.
»Wie es auch weitergehen mag, Hochländer«, sagte Höndel ruhig, »Ihr habt Euren Mann gestanden, und wir werden Euch das nie vergessen.«
»Die Grenzlegion muss sofort wiederaufgestellt und zum Mermidon geschickt werden, um die Stellung zu halten«, erklärte Balinor. »Wir müssen die untere Stadt auf der Stelle informieren. Dann gilt es, meinen Vater zu finden… und meinen Bruder. Ich möchte aber Blutvergießen vermeiden. Menion, können wir uns darauf verlassen, dass Janus Senpre eingreift?«
»Er ist Euch und dem König treu.«
»Ihr müsst ihm eine Nachricht schicken, während wir hier bleiben«, fuhr der Prinz von Callahorn fort. Er trat auf Stenmin zu. »Sobald er Hilfe bringt, dürfte es keine Schwierigkeiten mehr geben - mein Bruder wird allein sein. Aber was ist mit meinem Vater…?« Er blieb vor dem Mystiker stehen, nahm ihm den Knebel aus dem Mund und starrte ihn kalt an. Stenmin erwiderte kurz seinen Blick; seine hasserfüllten Augen loderten. Der Mystiker wusste, dass er besiegt war, wenn Palance gefangengenommen und als Herrscher von Callahorn abgesetzt wurde, und seine Verzweiflung wuchs von Minute zu Minute, als er seine Pläne in Rauch aufgehen sah. Menion, der bei den Elfen-Brüdern und Höndel stand, während Balinor sich den Gefangenen vornahm, fragte sich, was der Mann damit zu erreichen gehofft hatte, dass er Palance auf diese Weise beeinflusst hatte. Es war zwar kein Rätsel, weshalb er den geistig verwirrten, labilen Prinzen als den neuen König von Callahorn unterstützt hatte. Seine eigene Position war gesichert, wenn Balinors Bruder herrschte. Aber weshalb hatte er die Auflösung der Grenzlegion gefördert, obwohl er wusste, dass eine Invasionsarmee das kleine Südland-Reich zu überrennen drohte, um der aufgeklärten Monarchie ein Ende zu bereiten? Warum hatte er sich solche Mühe gegeben, Balinor unschädlich zu machen und den alten König in einem abgelegenen Teil des Palastes festzusetzen, wenn es ebenso leicht gewesen wäre, die beiden insgeheim zu töten? Und warum hatte er versucht, Menion Leah umzubringen, einen Mann, dem er vorher noch nie begegnet war?
»Stenmin, Eure Herrschaft über dieses Land und seine Menschen und Eure Macht über meinen Bruder sind beendet«, sagte Balinor mit eisiger Stimme. »Ob Ihr den morgigen Tag noch erlebt oder nicht, hängt davon ab, was Ihr von jetzt an tut, bis ich die Stadt wieder in der Gewalt habe. Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?«
Es blieb einen langen Augenblick still, während der Mystiker sich verzweifelt umsah, das Gesicht aschfahl vor Furcht.
»Er… er ist im Nordflügel… im Turm«, stieß er halblaut hervor.
»Wenn ihm etwas geschehen ist, Stenmin…«
Balinor wandte sich ruckartig ab, und Stenmin wich zurück an eine Wand. Er fuhr mit der Hand nervös über seinen schwarzen Bart. Menion beobachtete ihn beinahe mitleidig, aber dann löste sich in seinem Gehirn schlagartig etwas aus. Ein Bild flammte auf - die Erinnerung an eine Szene vor Tagen an den Ufern des Mermidon nördlich von Kern, als er auf einer kleinen Anhöhe gelegen hatte, den Blick auf den windumtosten Fluss gerichtet. Dieselbe Geste - das Streichen über einen kleinen Spitzbart! Jetzt wusste er genau, was Stenmin im Schild führte.
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