Shannara I
weit.
Der Morgen des dritten Tages dämmerte herauf in dumpfer Stille, die wie ein Leichentuch über dem Land von Callahorn und den Armeen von Norden und Süden hing. Die großen Kriegstrommeln der Gnome blieben stumm, sie waren ebenso wenig zu vernehmen wie Angriffsgeschrei. Die Sonne ging blutrot im fernen Osten auf. Ein dichter Dunst lag über dem betäubten Land. Nichts rührte sich, kein Laut war zu vernehmen. Die Soldaten der Grenzlegion auf den Mauern von Tyrsis warteten nervös und starrten in die Düsternis, um einen Blick auf den Gegner zu erhaschen.
Balinor befehligte den Mittelabschnitt der großen Außenmauer, Ginnisson hielt die rechte Seite, Messaline die linke. Janus Senpre führte das Kommando über die Stadtgarnison und die Reserven. Menion, Höndel und die Elfen-Brüder standen stumm neben Balinor und fröstelten in der kalten Morgenluft. Sie hatten nur wenig geschlafen, fühlten sich aber hellwach und waren von einer sonderbaren Ruhe erfüllt. Sie hatten sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden mit ihrer Lage abgefunden. Sie hatten Männer zu Tausenden sterben sehen, und ihr eigenes Leben erschien neben dem schrecklichen Blutbad, das dieses Land heimgesucht hatte, beinahe bedeutungslos. Das Grasland unter der Stadt war zerrissen und zerfurcht, die Erde getränkt von Blut, übersät mit Toten. Ein noch größeres Gemetzel stand in Aussicht, bis eine der beiden Armeen vollständig vernichtet war. Die Verteidiger von Tyrsis hatten die moralischen Beweggründe hinter dem Wort Überleben vergessen; der Krieg war zu einem mechanischen Reflex geworden, der seine eigene Logik besaß und alles rechtfertigte, was Menschen taten.
Die blutrote Sonne trat schärfer hervor, und nun wurden die Umrisse von Männern und Pferden erkennbar, als die Nordland-Armee wieder auftauchte, ein Schachbrett von exakt ausgerichteten Kolonnen auf dem ganzen Schlachtfeld, von den vordersten Schanzen auf der Klippe bis zu den verkohlten Überresten zweier Belagerungstürme. Man bewegte sich nicht, man sagte nichts. Man wartete nur. Höndel begriff, was sich abspielte, und flüsterte Balinor hastig etwas zu. Der Befehlshaber der Legion schickte sofort Meldegänger zu seinen Untergebenen auf den Wällen, um sie zu warnen.
Menion wollte gerade fragen, was eigentlich im Gange sei, als sich plötzlich auf der Klippe unmittelbar unter den Stadttoren etwas regte. Ein einzelner gepanzerter Krieger trat langsam aus dem Zwielicht hervor, hochgewachsen, aufrecht, und blieb vor der Riesenmauer stehen. In einer Hand hielt er eine lange Stange mit einem roten Wimpel. Er stieß die Stange in die Erde, dann trat er zurück, drehte sich um und kehrte zu seinen Reihen zurück. Wieder blieb es völlig still. Kurze Zeit danach hallte der langgezogene, klagende Ton eines fernen Horns traurig über die Ebene - einmal, zweimal, ein drittes Mal. Wieder Stille.
»Die Totenwache«, flüsterte Höndel. »Das bedeutet, dass sie keinen Pardon geben. Sie wollen uns alle töten.«
Plötzlich wurde die Stille vom Dröhnen der Kriegstrommeln zerrissen, und die ganze Armee setzte sich in Bewegung. Tausende von Gnomen-Pfeilen verdunkelten den Himmel und regneten auf die Stadtmauern hinab. Speere, Piken und Streitkolben flogen. Aus dem Dunst über der Ebene tauchte der Umriss des letzten Belagerungsturms auf, ächzend und knarrend unter seinem eigenen Riesengewicht, gezogen von Hunderten von Soldaten, hinauf über die neuerbaute Rampe, bis hin zur Außenmauer. Aus der Stadt schossen die Bogenschützen der Legion auf die anstürmenden Angreifer, während die anderen Legionäre an den Brustwehren lauerten und auf Balinors Befehle warteten.
Der König von Callahorn wartete, bis der massive Belagerungsturm ganz nahe an die Mauer herangekommen war. Schon versuchte der Feind, das große Hindernis mit Wurfankern und Sturmleitern zu erklimmen, und die Mauerfassade war übersät mit sich anklammernden Gestalten, die vergeblich die Krone zu erreichen suchten. Schlagartig ergoss sich der Inhalt riesiger Kessel von der Mauer; das Öl überschüttete Menschen und Maschine und die ganze Klippenwand. Brennende Fackeln folgten, und augenblicklich war die ganze Angriffsfront der Nordland-Armee in ein Flammenmeer getaucht. Belagerungsturm und Soldaten verschwanden einfach, als der schwarze Rauch in dichten Wolken emporquoll und den Blicken der Verteidiger das grausige Schauspiel entzog; nur die qualvollen Schreie der von den Flammen erfassten Männer waren zu hören.
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