Shannara V
vorgehen. Überlaß das mir.«
»Dir?« rief Morgan überrascht aus.
»Genau. Mir. Oder Walker Boh. Einarmig oder nicht, er ist Pe Ell gewachsen, oder ich habe ihn völlig fehleingeschätzt. Du konzentrierst dich darauf, dafür zu sorgen, daß dem Mädchen nichts passiert.« Er machte eine Pause. »Das dürfte dir nicht schwerfallen, wenn man bedenkt, was ihr füreinander empfindet.«
Morgan errötete gegen seinen Willen. »Ich bin es vor allem, der etwas empfindet«, murmelte er verlegen.
»Sie ist das hübscheste Ding, das ich je gesehen habe«, sagte der alte Mann und lächelte über Morgans Verlegenheit. »Ich weiß nicht, was sie ist, Mensch oder Elementarwesen oder was, aber sie kann dich glatt vom Sockel zaubern. Wenn sie dich anschaut mit ihrem sanften Gesicht, und wenn sie so redet, wie sie das tut, dann bist du bereit, alles für sie zu tun. Ich kann ein Lied davon singen. Ich wollte nie wieder hierherkommen, und hier bin ich. Sie hat uns allesamt um den Finger gewickelt.«
Morgan nickte. »Sogar Pe Ell. Er ist ebenso in ihrem Bann wie wir alle.«
Doch Dees schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht so sicher, Hochländer. Schau bei der nächsten Gelegenheit mal ganz genau hin. Er ist in ihrem Bann und ist es auch nicht. Mit dem da geht sie haarscharf bis an die Grenze. Er kann sich so schnell umdrehen wie eine Katze. Darum sag’ ich dir, du sollst auf sie aufpassen. Denk daran, was er ist. Er ist nicht hier, um uns irgendeinen Gefallen zu tun. Er ist um seiner selbst willen hier. Früher oder später wird er rückfällig werden.«
»Das nehme ich auch an«, gab Morgan zu.
Dees grinste zufrieden. »Aber so ohne weiteres wird ihm das nun nicht gelingen, nicht wahr? Weil wir ihn im Auge behalten werden.«
Sie packten ihre Sachen zusammen, zogen die Umhänge gegen das Wetter fest um die Schultern und traten wieder hinaus in den Regen. Sie folgten während des Nachmittags weiterhin der Küste, erreichten die Nordspitze der Halbinsel, ohne etwas zu finden, und gingen wieder zurück in die Stadt. Der Regen hörte endlich auf, und ein feiner Nebel hing wie Rauch vor dem Grau des Himmels und der Gebäude. Die Luft wärmte sich auf. Schatten gähnten aus Seitengassen und Nischen wie erwachende Geister, und Dampf stieg vom Straßenpflaster auf.
Von irgendwo unter dem Boden tönte das Rumpeln des Malmschlunds, ein fernes Donnern, das die Erde beben ließ.
»Ich beginne langsam zu glauben, daß wir überhaupt nichts finden werden«, brummte Horner Dees irgendwann.
Sie folgten den düsteren Straßenschluchten und durchsuchten den Dunst, der über allem lag, Tore und Fenster, die offenstanden wie Mäuler, die Nahrung suchen, glatte, glänzende Wege und Durchgänge. Überall lag die Stadt verlassen und tot, bar jeglichen Lebens, voller hohler, leerer Geräusche. Sie ummauerte sie mit ihren Steinen und ihrer Stille; sie umschloß sie mit solcher Unnachgiebigkeit, daß es ihnen trotz der Erinnerungen und besseren Wissens so vorkam, als sei die ganze Welt rundum untergegangen und nur Eldwist allein übriggeblieben.
Als der Abend näherrückte, wurden sie müde; die Unveränderlichkeit ihrer Umgebung stumpfte ihre Sinne ab und nagte an ihrer Widerstandskraft. Sie fingen an, ein wenig abzuschweifen, gingen näher am Rand des Gehsteigs, schauten öfter an den Steinmauern hoch und gaben sich dem gefährlichen und bohrenden Wunsch hin, daß etwas - irgendwas - geschehen würde. Ihr Überdruß war bedenklich, das Gefühl, die Dinge um sie herum weder beeinflussen noch verändern zu können, machte sie wahnsinnig. Sie waren jetzt schon seit fast einer Woche in Eldwist. Wieviel länger würden sie noch zu bleiben gezwungen sein?
Vor ihnen endete die Straße. Sie bogen um die Ecke des Gebäudes, an dem sie entlanggingen, und entdeckten, daß die Straße sich zu einem Platz erweiterte. In der Mitte des Platzes war eine seltsame Vertiefung mit Stufen, die von allen Seiten in eine Mulde führten, aus der eine Statue emporragte, eine geflügelte Figur, an deren Leib Bänder und Fähnchen hingen. Fast ohne zu denken bogen sie auf den Platz, verleitet von dem Anblick, der so anders war als alles, was sie bislang gesehen hatten. Ein Park, dachten sie wortlos. Was hatte der hier zu suchen?
Sie hatten die Straße zur Hälfte überquert, als sie den Riegel schnappen hörten, der die Falltüre unter ihren Füßen sicherte.
Sie hatten keine Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen. Sie standen in der Mitte der Tür, als sie
Weitere Kostenlose Bücher