Shannara VI
sich. Er mußte dem Schmerz in seinem Körper nur ein wenig Erleichterung verschaffen. Er konnte besser denken, wenn er dies tat. Er wußte, daß es so war.
Und während er sich das sagte, schlief er schon ein.
Als er erwachte, war es bereits dämmrig, und Coll schaute auf ihn herab. Sein Bruder saß keine zwanzig Meter von ihm entfernt zusammengekauert auf einem Wall aus Steinen, verdreht und gebeugt wie ein Käfer. Er war in das Spiegeltuch gehüllt, dessen Falten in dem schwachen, silbernen Licht bösartig schimmerten, als sei Tau in den Stoff eingewoben. Colls Gesicht wirkte hager und verzerrt, und sein sonst immer so ruhiger und stetiger Blick irrte voller Angst und Widerwillen umher.
Par war so verblüfft, daß er sich nicht rühren konnte. Es war ihm niemals in den Sinn gekommen, daß sein Bruder auf seinem Weg einen Kreis zurück beschreiben könnte - daß er überhaupt die Geistesgegenwart dazu haben würde. Warum war er gekommen? Um ihn erneut anzugreifen, um vielleicht zu versuchen, ihn zu töten? Er sah Coll an, sah in sein müdes Gesicht und seine eingesunkenen Augen. Nein, Coll war aus einem anderen Grund da. Er sah aus, als wolle er sich annähern, als wolle er sprechen oder Par nach etwas fragen. Und vielleicht ist das auch so, dachte Par plötzlich. Das Schwert von Shannara hatte Coll seinen ersten flüchtigen Blick auf die Wahrheit verschafft, seit er das Spiegeltuch umgelegt hatte. Vielleicht wollte er mehr.
Er erhob sich langsam und begann seine Hand auszustrecken.
Sofort war Coll fort, war von den Felsen in die dahinterliegenden Schatten gesprungen und eilte in den Wald.
»Coll!« schrie Par hinter ihm her. Das Echo wurde schwächer und erstarb. Der Klang von Colls Schritten verschwand in der Stille, während sich die Entfernung zwischen ihnen erneut ausdehnte.
Par suchte nach Beeren und Wurzeln. Während er das karge Frühstück aß, sagte er sich, daß er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, wenn er bis zum Einbruch der Nacht keine wirkliche Nahrung gefunden hätte. Er aß schnell und dachte dabei die ganze Zeit an Coll. In den Augen seines Bruders war solches Entsetzen zu sehen gewesen - und solcher Zorn. Auf Par, auf sich selbst, auf die Wahrheit? Er würde es nicht erfahren. Aber Coll war sich seiner noch immer bewußt, er suchte ihn von sich aus auf, und daher gab es noch immer eine Chance, ihn zu erreichen.
Aber was würde er tun, wenn dies geschehen wäre? Par hatte daran noch nicht gedacht. Das Schwert von Shannara erneut gebrauchen, antwortete er sich selbst, fast ohne zu denken. Das Schwert war sicherlich Colls größte Hoffnung, sich von dem Spiegeltuch befreien zu können. Wenn er Coll dazu bringen konnte, die Natur der Magie, die ihn in ihrer Gewalt hatte, zu erkennen, dann konnte er vielleicht eine Möglichkeit finden, den Umhang und seine Magie abzuwerfen. Vielleicht würde es Par gelingen, ihn fortzuziehen, wenn nichts anderes möglich war. Aber das Schwert war der Schlüssel! Coll hatte nichts erkannt, bis die Magie des Schwerts ihm Erkenntnis gewährt hatte, und dann hatte sich die Wahrheit in seinen Augen gezeigt. Par sagte sich, daß er es erneut einsetzen mußte. Und dieses Mal würde er nicht innehalten, bevor Coll befreit war.
Er nahm seine Decke an sich und brach erneut auf. Der Tag war schwül und still, und die Wärme verwandelte sich schnell in stickige Hitze, die Pars Kleidung vor Schweiß dampfen ließ. Er nahm Colls Spur auf und folgte ihr zum Mermidon und darüber hinweg nach Norden und dann erneut gen Süden. Dieses Mal zog sein Bruder mehrere Stunden lang in direkter Linie weiter und bewanderte das östliche Ufer bis ins Runnegebirge. Par überquerte den Fluß seitab von Varfleet, sah Schlepper und Fährschiffe träge auf der weiten Fläche manövrieren, dachte, daß es gut wäre, ein Boot zu haben, dachte eine Sekunde später, daß ein Boot nutzlos wäre, wenn er Fußabdrücken auf trockenem Boden folgen mußte. Er erinnerte sich daran, wie Coll und er vor Wochen aus Varfleet geflohen und den Mermidon entlang nach Süden gezogen waren. Das war der Anfang von allem gewesen. Er erinnerte sich daran, wie nah sie sich zu dem Zeitpunkt gewesen waren, trotz ihrer Auseinandersetzungen, welche Richtung ihr Leben nehmen sollte und wofür Par seine Magie einsetzen sollte. Das schien alles vor sehr langer Zeit geschehen zu sein.
Am späten Nachmittag erreichte Par mehrere Meilen flußabwärts von Varfleet einen kleinen Anlegeplatz mit einem
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