Shantaram
hatte einen starren Blick bekommen. »Alles okay mit dir?«
»Ja, ja, schon gut«, antwortete sie rasch. »Vielleicht hat mich die Fahrt mit dem Aufzug doch mehr mitgenommen, als ich dachte.«
»Tut es mir leid für das Problem, Miss Karla«, entschuldigte sich Prabaker mit fürsorglich-bekümmerter Miene. »Ab jetzt wir machen nur noch fröhliche Themen. Wollen wir nichts mehr sprechen mit Mord und mit tote Leute und Blut in ganzes Haus und solche Sache.«
»Sie hat es verstanden, Prabu«, knurrte ich zwischen den Zähnen hervor und warf ihm einen bösen Blick zu.
Junge Frauen entfernten die benutzten Bananenblätter und servierten uns kleine Schälchen mit Rabdi zum Dessert, wobei sie Karla mit unverhohlener Faszination anstarrten.
»Ihre Beine sind zu dünn«, sagte eine von ihnen auf Hindi. »Das sieht man durch die Hose.«
»Und ihre Füße sind zu groß«, sagte eine andere.
»Aber ihre Haare sind weich. Und sie sind so schön schwarz wie unsere«, äußerte eine dritte.
»Ihre Augen sind stinkwanzen-grün«, bemerkte die erste und schnüffelte verächtlich.
»Vorsicht, Schwestern«, sagte ich lachend auf Hindi. »Meine Freundin spricht perfekt Hindi, sie versteht alles, was ihr sagt.«
Die Frauen reagierten mit einer Mischung aus Schock und Ungläubigkeit und begannen sich aufgeregt zu unterhalten. Dann beugte sich eine vor, blickte Karla in die Augen und fragte sie laut und deutlich, ob sie Hindi spreche.
»Vielleicht sind meine Beine zu dünn und meine Füße zu groß«, antwortete Karla in fließendem Hindi. »Aber taub bin ich jedenfalls nicht.«
Die Frauen kreischten begeistert auf und scharten sich fröhlich lachend um sie. Sie bestürmten sie, zu ihnen herüberzukommen, und hatten sie im Nu zur Festtafel der Frauen entführt. Ich beobachtete Karla eine Weile und war überrascht, sie in Gesellschaft der Frauen und jungen Mädchen lächeln und sogar laut lachen zu sehen. Sie war die schönste Frau, der ich je begegnet war. Schön wie eine Wüste in der Morgendämmerung; ihr Liebreiz blendete mich und versetzte mich in stumme, atemlose Ehrfurcht.
Als ich Karla dort im Himmelsdorf beobachtete und sie lachen sah, konnte ich nicht fassen, dass ich ihr so viele Monate aus dem Weg gegangen war. Und es überraschte mich, dass die Mädchen keine Scheu hatten, sie zu berühren und ihr übers Haar zu streichen oder ihre Hände zu nehmen. Ich hatte Karla immer als reserviert, beinahe unterkühlt erlebt. Und diesen Frauen war es nach weniger als einer Minute gelungen, das Eis zu brechen. Sie gingen bereits jetzt vertrauter mit ihr um, als ich es nach über einem Jahr Freundschaft wagte. Ich musste an den schnellen, impulsiven Kuss denken, den sie mir in meiner Hütte gegeben hatte. Und erinnerte mich an den Zimt- und Jasminduft ihres Haars, an die Berührung ihrer Lippen, so voll und weich wie süße Trauben, die den Geschmack des Sommers in sich tragen.
Tee wurde gebracht, und ich stellte mich mit meinem Glas an eine der riesigen Fensteröffnungen, die auf den Slum hinausgingen. Unter mir erstreckte sich der Flickenteppich des Ghettos von der Baustelle bis ans Meer. Die schmalen Gassen, von zerfledderten Überhängen verdunkelt, waren nur teilweise zu sehen und glichen eher Tunneln als Straßen. Rauchschwaden stiegen von Kochfeuern auf und trieben mit einer flauen Brise träge Richtung Meer, wo sie sich über den Fischerkanus zerstreuten, die vereinzelt im schlammigen Uferwasser dümpelten.
Vom Slum aus betrachtet landeinwärts standen zahlreiche hohe Apartmenthäuser, die luxuriösen Wohnstätten der oberen Mittelschicht. Einige von ihnen hatten herrliche Dachgärten, die ich von meinem Standort besonders gut einsehen konnte: mit Palmen und Kletterpflanzen bewachsene Paradiese. Ich sah aber auch Minislums, die von den Bediensteten der Reichen auf anderen Dächern eingerichtet wurden. Auf allen Häusern, selbst den neuesten, waren Schimmel- und Moderschichten zu sehen. Ich empfand es inzwischen als schön, wie Verfall und Niedergang von den Fassaden Besitz ergriffen, so prunkvoll sie auch sein mochten – diese Ahnung vom Ende, die in Bombay jeden noch so strahlenden Anfang erfasste.
»Du hast recht, die Aussicht ist wirklich toll«, sagte Karla leise, als sie zu mir trat.
»Ich komme manchmal nachts hier hoch, wenn alle schlafen«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Wenn ich allein sein will, ist das einer meiner Lieblingsorte.«
Wir schwiegen eine Weile und sahen den Krähenschwärmen über dem
Weitere Kostenlose Bücher