Shantaram
Slum zu.
»Was ist dein Lieblingsort, wenn du allein sein willst?«
»Ich bin nicht gern allein«, erwiderte sie kurz angebunden und wandte sich mir zu. »Was ist los?«, fragte sie dann, als sie meine Miene sah.
»Ich wundere mich nur. Ich dachte – na ja, ich habe dich für jemand gehalten, der gut allein sein kann. Das meine ich nicht negativ. Du hast für mich einfach … eine gewisse Distanz, scheinst über allem zu stehen.«
»Da liegst du ziemlich daneben«, sagte sie lächelnd. »Unter allem trifft es besser.«
»Wow, zweimal an einem Tag.«
»Was?«
»Ich hab schon zum zweiten Mal an einem einzigen Tag ein richtiges Lächeln bei dir gesehen. Vorhin mit den Mädchen hast du gelächelt. Und so ein Lächeln habe ich zum ersten Mal bei dir gesehen.«
»Ich lächle öfter.«
»Versteh mich nicht falsch. Mir gefällt das. Nicht zu lächeln kann sehr attraktiv sein. Ein ehrliches Stirnrunzeln ist mir lieber als ein falsches Lächeln. Und Ernstsein passt zu dir. Du siehst irgendwie, ich weiß nicht, zufrieden aus, wenn du nicht lächelst. Vielleicht ist ehrlich sogar das bessere Wort. Zumindest dachte ich das, bis ich dich heute lächeln gesehen habe.«
»Ich lächle öfter«, wiederholte sie und legte die Stirn in Falten, während ihre fest zusammengepressten Lippen mit einem Lächeln rangen.
Wir schwiegen wieder. Und blickten uns in die Augen anstatt auf die Aussicht. Ihre Augen waren meergrün und goldgesprenkelt und leuchteten mit jener Strahlkraft, die meist auf Leiden oder besondere Intelligenz oder beides hinweist. Ein Luftzug spielte mit ihrem schulterlangen Haar, das so dunkel, so schwarzbraun war wie ihre Augenbrauen und ihre langen Wimpern. Zwischen ihren leicht geöffneten ungeschminkten blassrosa Lippen sah ich ihre ebenmäßigen weißen Zähne und ihre Zungenspitze. Mit verschränkten Armen lehnte sich Karla an den fensterlosen Rahmen, und der leichte Wind strich durch die weich fallende Seide ihrer Bluse, betonte die Formen ihres Körpers und verhüllte sie dann wieder.
»Worüber habt ihr gelacht, du und die Mädchen?«
Sie zog wieder mit ihrem ironischen Halblächeln eine Augenbraue hoch.
»Machst du jetzt Smalltalk mit mir?«
»Vielleicht«, räumte ich lachend ein. »Ich glaube, du machst mich nervös. Tut mir leid.«
»Kein Problem. Ich betrachte das als Kompliment – für uns beide. Falls du es wirklich wissen willst: Es ging hauptsächlich um dich.«
»Um mich?«
»Ja, sie haben erzählt, dass du einen Bären umarmt hast.«
»Ah, verstehe. Tja, das war wohl wirklich ziemlich komisch.«
»Eine der Frauen hat deinen Gesichtsausdruck kurz vorher imitiert, und darüber haben sie sich ausgeschüttet vor Lachen. Aber am meisten Spaß hatten sie beim Raten, warum du das wohl getan hast. Jede hatte ihre eigene Theorie. Radha – das ist deine Nachbarin, oder?«
»Ja, Satishs Mutter.«
»Also, Radha hat gemeint, du hättest den Bären umarmt, weil er dir leidtat. Das war ein ziemlicher Lacherfolg.«
»Kann ich mir vorstellen«, murmelte ich trocken. »Und was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass du es wahrscheinlich gemacht hast, weil du jemand bist, der sich für alles interessiert und alles wissen will.«
»Komisch, dass du das sagst. Eine Exfreundin sagte mir vor langer Zeit mal, sie hätte sich zu mir hingezogen gefühlt, weil ich mich für alles interessiere. Und aus diesem Grund hat sie mich dann auch verlassen.«
Ich verschwieg Karla allerdings die vollständige Aussage dieser Freundin. Sie hatte nämlich gesagt, ich interessiere mich für alles, sei aber außerstande, mich wirklich auf etwas einzulassen. Diese Worte machten mir immer noch zu schaffen. Sie schmerzten immer noch. Und sie waren immer noch wahr.
»Wärst du … vielleicht bereit, mir bei etwas zu helfen?«, fragte Karla. Ihr Ton war plötzlich ernst, bedeutungsschwanger.
Aha, dachte ich. Deshalb ist sie zu mir gekommen. Sie will etwas. Mein verletzter Stolz, der beleidigte Kater, machte einen Buckel. Karla vermisste mich nicht – sie wollte etwas von mir. Aber trotzdem war sie zu mir gekommen und bat mich um diesen Gefallen. Nicht jemand anderen, und das versöhnte mich. Als ich in ihre ernsten grünen Augen sah, spürte ich, dass sie nicht oft jemanden um Hilfe bat. Und ich hatte das Gefühl, dass viel, womöglich zu viel von ihrer Bitte abhing.
»Klar«, sagte ich rasch, um nicht zu lange zu zögern. »Worum geht’s?«
Sie schluckte schwer, um innere Widerstände zu überwinden, und platzte
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