Shantaram
entgegenbrachten. Aber bislang hatte ich weder die Freundschaften noch den Respekt als Zeichen von Zuneigung gedeutet.
»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte ich lächelnd, um das Thema zu wechseln. »Die Leute hier versuchen schon seit Jahren, eine eigene Grundschule zu bekommen. Im Slum haben wir etwa achthundert Kinder im Grundschulalter. Weil die Schulen im gesamten Umkreis voll sind und sie nicht aufnehmen können, haben die Leute selbst Lehrer organisiert und sogar einen guten Platz für die Schule gefunden, aber die Behörden haben sich trotzdem ewig quergestellt.«
»Weil es ein Slum ist …«
»Genau. Sie befürchten, dass eine Schule den Slum in gewisser Weise legitimieren würde. Theoretisch existiert er nämlich nicht, weil er von den Behörden nicht genehmigt ist.«
»Sind wir die Nix-Leute«, verkündete Prabaker fröhlich. »Und sind das hier die Nix-Häuser, wo wir nix-leben.«
»Und jetzt haben wir noch die Nicht-Schule dazu«, ergänzte ich. »Die Stadtverwaltung hat sich zu guter Letzt auf eine Art Kompromiss eingelassen. Sie hat erlaubt, dass hier in der Nähe eine provisorische Schule eingerichtet wird und in Kürze sogar noch eine zweite. Aber wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind, müssen beide wieder abgerissen werden.«
»Und wann ist das?«
»Na ja, an diesen Hochhäusern bauen sie jetzt schon seit fünf Jahren, und es wird wohl weitere drei Jahre dauern, vielleicht sogar noch länger. Niemand weiß genau, was passiert, wenn die Gebäude fertig sind. Zumindest theoretisch wird der Slum dann niedergewalzt.«
»Und dann ist das alles hier weg?« Karla ließ den Blick über die Barackenstadt schweifen.
»Ist dann alles weg«, seufzte Prabaker.
»Aber heute ist ein großer Tag«, sagte ich. »Die Kampagne für die Schule hat ewig gedauert und war teilweise auch ziemlich gewalttätig. Aber jetzt haben die Leute gewonnen und die Schule bekommen, und heute Abend wird ein großes Fest gefeiert. Außerdem hat einer der Männer, die hier arbeiten, nach fünf Töchtern endlich einen Sohn bekommen und veranstaltet als Einstimmung auf das Fest ein großes Mittagessen, zu dem alle eingeladen sind.«
»Im Himmelsdorf!«, sagte Prabaker lachend.
»Wo ist denn dieses Dorf? Wo führt ihr mich hin?«
»Hier«, antwortete ich und zeigte nach oben. »Da oben.«
Wir hatten den Rand des legalen Slums erreicht, und vor uns ragten die beiden Hochhäuser zum Himmel auf. Das letzte Viertel der Rohbauten fehlte bislang, und Fenster, Türen und Installationen waren noch nicht eingebaut worden. Ohne die Spiegelflächen von Metall und Glas schienen die massiven grauen Bauten das Licht zu verschlucken und zum Erlischen zu bringen, wurden zu Schattenspeichern. Durch Hunderte von höhlenartigen Fensteröffnungen bekam man einen querschnittartigen Einblick in die Gebäude und sah Männer, Frauen und Kinder bei ihrer Arbeit so geschäftig umhereilen, dass man an einen Ameisenhaufen erinnert wurde. Drängender Eifer kam in den Geräuschen der Maschinen im Erdgeschoss zum Ausdruck, einer Art gehetzter Musik: die nervöse Gereiztheit der Generatoren, das Scheppern, wenn erbarmungslos niedersausende Hämmer auf Metall treffen, das beharrliche Heulen von Bohrern und Schleifmaschinen.
Lange Reihen von Frauen in Saris mit Schalen voll Kies auf dem Kopf schlängelten sich zwischen aufgeschütteten dünenartigen Kieshaufen hindurch zu den klaffenden Mäulern der unermüdlich rotierenden Zementmischer. Für meinen westlichen Blick passten diese weiblichen in rote, blaue, grüne oder gelbe Seide gewandeten Gestalten überhaupt nicht in die mechanische Betriebsamkeit einer Baustelle. Doch da ich sie schon seit Monaten beobachtete, wusste ich, dass die Frauen unverzichtbar waren. Den größten Teil des Steins, Stahls und Zements transportierten sie mit der Kraft ihrer schlanken Rücken: unermüdlich, immer eine runde Schüssel voll. Die obersten Stockwerke waren noch nicht betoniert, doch das Gerippe aus Stahlträgern stand schon, und selbst hier, in fünfunddreißig Stockwerken Höhe, arbeiteten die Frauen an der Seite der Männer. Die meisten waren einfache Menschen aus kleinen Dörfern, doch hier bot sich ihnen eine absolut einzigartige Aussicht auf die große Stadt, denn sie bauten die beiden höchsten Gebäude von Bombay.
»Sind sie die viel höchste Häuser von ganz Indien«, sagte Prabaker mit einem gewissen Besitzerstolz. Er lebte in dem illegalen Slum und hatte nicht das Geringste mit der Baustelle zu tun, doch
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