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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Analphabeten, moralisch Integere und Kriminelle, Alte und Junge –, und sie alle schienen nur eines gemein zu haben: die Kraft, meine Gefühle zu erwecken.
    Auf dem Schreibtisch lag ein dickes ledergebundenes Buch. Ich schlug es auf und stellte fest, dass es Karlas Tagebuch war. Obwohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte, blätterte ich es durch und las, was sie mit ihrer eleganten Handschrift geschrieben hatte. Es handelte sich nicht wirklich um ein Tagebuch; sie hatte nirgendwo Daten oder Berichte vom Tage notiert, sondern einzelne Textstellen aus Romanen, die mit dem Namen des Autors und eigenen Kommentaren versehen waren, und viele Gedichte. Einige hatte sie aus Anthologien und Zeitungen abgeschrieben und den Namen der Dichter sowie die Quelle darunter angegeben. Andere stammten von ihr selbst; hier hatte sie Wörter oder Sätze ausgebessert. Bestimmte ungewöhnliche Wörter waren in dem ganzen Buch mit Sternchen markiert und am Rand mit einer Definition aus Lexika versehen. Zwischendurch stieß ich auf Passagen, in denen sie in fießendem, leichtfüßigem Stil Gedanken und Gefühle festgehalten hatte. Gelegentlich wurden andere Leute erwähnt, jedoch nie mit Namen, sondern lediglich als »sie« oder »er«.
    Auf einer Seite entdeckte ich einen rätselhaften Hinweis auf Sapna.
    DIE FRAGE: Was wird Sapna tun?
    DIE ANTWORT: Er wird uns alle töten.
    Mein Herz pochte, als ich die Worte mehrmals las. Für mich gab es keinen Zweifel daran, dass dieser Mann gemeint war – dieser Sapna, der für die grauenhaften Morde verantwortlich war, von denen Abdul Ghani und Madjid gesprochen hatten, und der sowohl von der Polizei als auch von der Unterwelt gejagt wurde. Und aus diesem mysteriösen Eintrag schloss ich, dass Karla etwas über ihn wusste, vielleicht sogar seine Identität kannte. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte und ob ihr Gefahr drohte.
    Ich las die Seiten vor und nach diesem Eintrag noch einmal sorgfältiger, fand aber keine weiteren Hinweise auf Sapna oder Karlas Verbindung zu ihm. Auf der vorletzten Seite des Tagebuchs allerdings stieß ich auf eine Passage, die sich zweifellos auf mich bezog:
Er wollte mir sagen, dass er in mich verliebt ist. Wieso habe ich ihn davon abgehalten? Schäme ich mich, weil es wahr sein könnte? Die Aussicht von dort oben war unglaublich, fantastisch. Wir waren so hoch oben, dass wir auf die Drachen hinunterschauen konnten, die weit oben über den Köpfen der Kinder schwebten. Er sagte, ich lächle nie. Ich bin froh, dass er das gesagt hat, und gleichzeitig frage ich mich, warum.
    Darunter stand:
Ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht,
der Wahnsinn, der uns zerstört,
oder unsere grenzenlose Bereitschaft, ihn zu erdulden.
    Ich erinnerte mich genau an diese Worte. Sie hatte diese Bemerkung gemacht, als wir zusahen, wie die Slumhütten zertrümmert und abtransportiert wurden. Was sie sagte, war häufig so klug, dass ihre Worte sich mir einprägten. Es überraschte und schockierte mich ein wenig, dass sie selbst sich offenbar auch an diese Bemerkung erinnert und sie hier festgehalten hatte – noch dazu in verfeinerter Form. Und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie diesen Satz in Zusammenhang mit anderen Leuten noch einmal benutzen wollte.
    Auf der letzten Seite fand ich ein Gedicht von ihr – der jüngste und letzte Eintrag des Tagebuchs. Da es auf die Passage über mich folgte und ich begierig war, mehr zu erfahren, las ich es und redete mir ein, sie hätte es für mich geschrieben. Ich wollte mir einbilden, dass es mir gewidmet war oder dass es sich wenigstens auf Gefühle für mich bezog. Ich wusste wohl, dass es sich nicht so verhielt, doch die Liebe schert sich selten um das, was wir wissen oder als Wahrheit erkannt haben.
    Niemand soll folgen uns auf deinem Weg
Die Spuren tilgte ich mit meinem Haar.
Über der Insel unseres Lagers sank die Sonne
Die Nacht stieg auf
Verschlang das Echo
Gestrandet in fackerndem Lichtgespinst,
Und Kerzen raunten am Treibholz unseres Rückens.
Deine Augen über mir
Fürchteten meine Versprechen, eingelöst,
Bereuten unsere Wahrheit, ausgesprochen,
Mehr als die Lügen, verschwiegen,
Tief ging ich, tief,
Focht gegen die Vergangenheit, für dich.
Nun wissen wir beide
Herzeleid ist die Saat der Liebe.
Nun wissen wir beide
Ich will leben
Und ich will sterben für diese Liebe.
     
    Ich griff nach einem Stift und Papier und schrieb das Gedicht ab. Nachdem ich das Papier gefaltet und die gestohlenen Worte in meiner Brieftasche verstaut

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