Shantaram
hatte, klappte ich das Buch zu und legte es wieder so hin, wie ich es vorgefunden hatte.
Ich trat ans Bücherregal, weil ich wissen wollte, ob die Auswahl der Titel etwas über die Frau aussagte, die sie erworben und gelesen hatte. Ihre kleine Bibliothek, die vier Regalbretter füllte, war erstaunlich eklektisch. Es gab Texte zur griechischen Geschichte, zu Philosophie und Kosmologie, zu Lyrik und Theater. Stendhals Kartause von Parma in italienischer Übersetzung. Madame Bovary im französischen Original. Thomas Mann und Schiller auf Deutsch. Djuna Barnes und Virginia Woolf auf Englisch. Ich nahm Maldoror von Isidore Ducasse aus dem Regal. Die Ausgabe war voller Eselsohren und mit Randnotizen in Karlas Handschrift versehen. Ich zog ein anderes Buch heraus, eine deutsche Übersetzung von Gogols Die toten Seelen, und auch hier hatte Karla auf vielen Seiten Anmerkungen an den Rand geschrieben. Sie verschlang ihre Bücher, das war nicht zu übersehen. Sie verleibte sie sich ein, scheute nicht davor zurück, durch ihre Kommentare und Anmerkungen Spuren darin zu hinterlassen.
Ein halbes Regalbrett nahmen Tagebücher ein – gleich dem, das ich auf dem Schreibtisch entdeckt hatte. Ich nahm eines heraus und blätterte darin. Zum erstenmal fiel mir auf, dass alle Einträge auf Englisch waren. Karla war in der Schweiz geboren und sprach fießend Deutsch und Französisch, das wusste ich, aber wenn sie ihre intimsten Gedanken und Gefühle zu Papier brachte, tat sie das auf Englisch. Ich deutete das für mich als gutes, vielversprechendes Zeichen. Englisch war meine Sprache. Wenn sie mit sich selbst sprach, aus ihrem tiefsten Innern, benutzte sie meine Sprache.
Ich ging in der Wohnung umher und betrachtete eingehend alle Gegenstände, mit denen sie sich in ihrem Zuhause umgab. An einer Wand hing ein Ölbild von Frauen, die von einem Fluss kamen und mit Wasser gefüllte Matkas auf dem Kopf balancierten, gefolgt von Kindern mit kleineren Gefäßen auf dem Kopf. Auf einem eigenen Regalbrett stand eine handgeschnitzte Rosenholzfigur der Göttin Durga, umgeben von Räucherstäbchenhaltern. Ein Arrangement aus Strohblumen und anderen getrockneten Pfanzen fiel mir besonders auf. Strohblumen waren meine Lieblingsblumen, und in einer Stadt, in der man günstig frische Blumen im Überfuss kaufen konnte, sah man selten Trockenblumen. Ich betrachtete ein Arrangement von Fundstücken – ein riesiger Wedel einer Dattelpalme, den sie an der Wand befestigt hatte; Muscheln und Steine in einem großen Aquarium ohne Wasser; ein Spinnrad, mit einem Sortiment kleiner Tempelglöckchen aus Messing behängt.
Die farbenfrohesten Gegenstände, die Karla besaß, ihre Kleider, hingen nicht in einem Schrank, sondern an einem Kleiderständer in einer Ecke des Zimmers. Sie waren in zwei Gruppen unterteilt: Links auf dem Ständer hing ihre Geschäftskleidung – elegante Kostüme mit langen schmalen Röcken und mondäne Kleider, darunter auch ein silbernes, rückenfreies Etuikleid. Rechts hatte sie ihre privaten Sachen angeordnet: die weiten Seidenhosen, fießenden Tücher und langärmeligen Baumwollblusen, die sie am liebsten trug, wie ich wusste.
Unter dem Kleiderständer waren Schuhe aufgereiht, gut und gerne zwei Dutzend Paare. Am Ende der Reihe standen meine Stiefel, geputzt und bis oben geschnürt. Ich kniete mich hin, um sie an mich zu nehmen. Neben meinen Schuhen sahen ihre so klein aus, dass ich nicht umhinkonnte, einen in die Hand zu nehmen und einen Augenblick lang zu betrachten. Es war ein italienischer Schuh, aus Mailand, dunkelgrünes Leder mit einer seitlich angenähten Zierschnalle und Fersenriemchen – ein teurer, eleganter Schuh, doch der flache Absatz war auf der einen Seite etwas abgetreten und das Leder hier und da abgestoßen. Sie oder jemand anders hatte versucht, die hellen Kratzer mit einem Filzstift in einem Grünton zu übermalen, der farblich nicht ganz passte.
Meine Kleider entdeckte ich in einer Plastiktüte hinter meinen Stiefeln. Sie waren frisch gewaschen. Ich nahm sie mit ins Bad und zog mich um. Dann hielt ich den Kopf eine geschlagene Minute lang unter den Wasserhahn. Als ich mir die kurzen Haare wieder nachlässig nach hinten gestrichen hatte und in meinen alten Jeans und den bequemen Stiefeln steckte, fühlte ich mich frischer und viel wohler.
Ich ging ins Schlafzimmer, um nach Lisa zu sehen. Sie schlief friedlich. Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Ich stopfte die Decke am Rand fest, damit sie nicht
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