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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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herausfiel, und stellte den Deckenventilator auf die niedrigste Stufe. Die Fenster waren vergittert, und die Haustür ließ sich von außen nicht mehr öffnen, wenn man sie hinter sich zugezogen hatte. Ich wusste, dass ich Lisa allein lassen konnte, dass sie hier sicher war. Während ich neben dem Bett stand und zusah, wie sich ihre Brust rhythmisch hob und senkte, überlegte ich, ob ich Karla eine Nachricht schreiben sollte. Ich entschied mich dagegen, denn ich wollte, dass sie sich Gedanken über mich machte – dass sie sich fragte, was ich wohl gedacht und getan hatte, hier in ihrem Haus. Um einen Vorwand für einen Besuch zu haben, legte ich die Kleider zusammen, die ich gerade ausgezogen hatte, die Begräbniskleider ihres toten Geliebten, und packte sie in die Tüte. Ich würde sie waschen und in ein paar Tagen zurückbringen.
    Als ich mich umdrehte, um Tariq zu wecken, stand der Junge bereits in der Tür, seine kleine Schultertasche fest umschlungen. Sein verschlafenes Gesicht sah gekränkt und vorwurfsvoll aus.
    »Du willst von mich weggehen?«, fragte er.
    »Nein«, erwiderte ich lachend. »Aber du wärst eindeutig besser dran, wenn ich es täte. Jedenfalls hättest du es hier bequemer. Bei mir ist es nicht so schön wie hier.«
    Er runzelte die Stirn. Die fremden Sätze auf Englisch hatten ihn verwirrt statt beruhigt.
    »Bist du so weit?«
    »Ja, so weit«, murmelte er und wiegte den Kopf.
    Eingedenk der Latrine und des Wassermangels im Slum, schickte ich ihn noch einmal zur Toilette, bevor wir gingen, und sagte ihm, er solle sich auch Gesicht und Hände waschen. Danach gab ich ihm ein Glas Milch und ein Stückchen Kuchen, das ich in Karlas Küche fand. Schließlich traten wir auf die menschenleere Straße und zogen die Tür hinter uns ins Schloss. Er sah sich noch einmal nach dem Haus und den Nachbargebäuden um, suchte nach Orientierungspunkten für seine geistige Landkarte. Dann beschleunigte er seinen Schritt und lief neben mir her, allerdings mit etwas Abstand.
    Wir gingen auf der Straße, weil der Gehweg immer wieder versperrt war von Leuten, die dort schliefen. Abgesehen von vereinzelten Taxis oder Polizeijeeps war es ruhig auf der Straße. Sämtliche Läden und Geschäfte hatten geschlossen, und nur in wenigen Häusern und Wohnungen sah man noch Licht. Der Mond, der beinahe voll war, wurde ab und zu von dichten, düsteren Wolkenschwaden verdunkelt. Sie waren Vorboten des Monsuns: Diese dichten Wolken, die jetzt Nacht für Nacht aufzogen, würden im Laufe der kommenden Tage so stark anschwellen, bis schließlich der ganze Himmel von ihnen bedeckt sein würde. Und dann würde es regnen, allerorten und endlos.
    Wir kamen gut voran. Nur eine halbe Stunde, nachdem wir Karlas Wohnung verlassen hatten, bogen wir auf den breiten Weg ein, der an der östlichen Biegung des Slums entlangführte. Tariq hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, und ich hatte auch geschwiegen. Die Sorge, wie ich mit ihm zurechtkommen sollte, und die Verantwortung für sein Wohlergehen belasteten mich. Zu unserer Linken befand sich eine große freie Fläche, ungefähr so groß wie ein Fußballfeld, die als Latrinenbereich für Frauen, kleine Kinder und alte Menschen diente. Nichts wuchs dort, und nach acht Monaten unablässiger Sonneneinstrahlung war das Gelände kahl und staubig. Zu unserer Rechten verlief die Grenze der Großbaustelle, hie und da durch niedrige Stapel von Bauholz, Stahlgittern und anderem Material markiert. Einzelne Glühbirnen an Verlängerungskabeln beleuchteten die Baumaterialhaufen. Sie waren die einzige Lichtquelle auf dem Weg, und aus dem Slum, der noch rund fünfhundert Meter entfernt war, drang nur der schwache Schimmer einiger Petroleumlampen zu uns herüber.
    Ich wies Tariq an, dicht hinter mir zu bleiben, denn ich wusste, dass nachts viele Leute den Weg als Latrine benutzten, weil sie auf dem freien Feld Angst vor Ratten oder Schlangen hatten. Durch eine rätselhafte, unausgesprochene Übereinkunft wurde auf dem Weg immer ein schmaler, gewundener Pfad frei gelassen, damit diejenigen, die spät zurückkehrten, in den Slum gelangen konnten, ohne in die Exkremente zu treten. Ich kam so häufig erst tief in der Nacht nach Hause, dass ich den wilden Zickzackpfad sicher ging, ohne zu straucheln oder in eines der vielen Schlaglöcher zu stolpern, die auszubessern sich offenbar niemand berufen fühlte.
    Tariq folgte mir, angestrengt bemüht, genau meinem Weg zu folgen. Der Gestank hier am Rand des Slums war

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