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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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allerdings immun zu sein. Sie setzte die Flasche an und trank sie mit tiefen, langsamen Schlucken zu gut einem Viertel leer. Das war’s, dachte ich. Wenn sie vorher noch nicht betrunken war, ist sie es jetzt. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und lächelte, doch ihre Züge drohten zu entgleisen, und ihre porzellanblauen Augen hatten Mühe, einen Punkt zu fixieren. Je mehr sie abbaute, abstürzte, desto schneller verschwand die Maske der Aggressivität aus ihrem Gesicht. Plötzlich sah sie sehr jung und sehr verletzlich aus. Ihre eben noch verkrampfte Mundpartie, die wütende, furchtsame, unsympathische, entspannte sich, und ihre Miene wurde erstaunlich sanft und gefühlvoll. Ihre Wangen waren rund und rosig, und die zart geformte Nasenspitze zeigte keck nach oben. Jetzt war sie einfach nur eine vierundzwanzigjährige Frau mit dem Gesicht eines jungen Mädchens, das noch nicht von vielen Kompromissen und von Furchen gezeichnet war, die schwere Entscheidungen hinterlassen. Nach dem Wenigen zu urteilen, was Karla mir über sie erzählt und was ich bei Madame Zhou selbst gesehen hatte, war Lisas Leben härter gewesen als das der meisten Menschen, doch ihrem Gesicht war davon nichts anzusehen.
    Sie reichte mir den Whisky. Ich nahm die Flasche und trank einen Schluck. Dann hielt ich sie noch einen Moment lang in der Hand, und als Lisa gerade nicht hinsah, stellte ich die Flasche unauffällig auf den Boden neben das Bett, außerhalb ihrer Reichweite. Sie zündete sich eine Zigarette an und fingerte an ihrem Haar herum, bis der Knoten sich löste und die langen Locken ihr über die Schulter fielen. Als ihre Hand auf dem Kopf ruhte, rutschte der weite Ärmel ihrer Seidenjacke herunter und gab den Blick auf die kurzen Härchen ihrer blassen, rasierten Achselhöhle frei.
    Ich konnte nirgendwo im Zimmer Anzeichen für Drogenkonsum sehen, und doch waren Lisas Pupillen nicht größer als Stecknadelköpfe, was auf Heroin oder irgendein anderes Opiat hindeutete. Was immer sie sich einverleibt hatte, entfaltete jetzt zügig seine Wirkung. Sie sackte nach hinten ans Kopfbrett des Bettes und atmete geräuschvoll durch den Mund. Ein dünner Faden aus Whisky und Speichel rann aus ihrem Mundwinkel über die schlaffe Unterlippe.
    Und trotz alldem war sie schön. Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie immer schön sein würde, selbst dann, wenn sie sich hässlich verhielt. Ihr Gesicht war groß, hübsch und leer: Es war das Gesicht einer Cheerleaderin, das Gesicht, das Werbeleute immer dann einsetzen, wenn sie unsinnige, überflüssige Dinge verkaufen wollen.
    »Na los, erzähl schon: Wie ist der Kleine so?«
    »Tja, ich glaube, er ist so eine Art religiöser Fanatiker«, sagte ich verschwörerisch und blickte mich lächelnd zu dem schlafenden Jungen um. »Ich musste heute dreimal auf ihn warten, und heute Abend nochmal, weil er beten musste. Keine Ahnung, ob das seiner Seele was bringt, aber sein Magen ist jedenfalls in bester Verfassung. Der Junge isst, als gäbe es eine Belohnung dafür. Ich hab heute Abend allen Ernstes geschlagene zwei Stunden im Restaurant festgesessen, während er zugeschlagen hat. Einmal querbeet: von Nudeln über gegrillten Fisch bis zu Eis und Götterspeise. Deshalb sind wir auch so spät dran. Normalerweise wäre ich längst zu Hause, aber ich habe ihn gar nicht mehr aus diesem Restaurant rausgekriegt. Der wird mir in den nächsten zwei Tagen noch die Haare vom Kopf fressen. Er isst mehr als ich.«
    »Weißt du, wie Hannibal gestorben ist?«, fragte sie.
    »Was?«
    »Hannibal, der Typ mit den Elefanten. Hast in Geschichte wohl nicht aufgepasst, was? Der ist doch mit seinen Elefanten über die Alpen gezogen, um Rom anzugreifen.«
    »Ja, ich weiß, wen du meinst«, knurrte ich, von ihrem Gedankensprung genervt.
    »Und, wie ist er gestorben?«, hakte sie nach. Ihre Mimik war übertrieben und durch den Suff verzerrt.
    »Keine Ahnung.«
    »Ha!«, spottete sie. »Du weißt also doch nicht alles.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    Ein langgezogenes Schweigen folgte. Sie starrte mich mit leerem Blick an. Es kam mir vor, als könnte ich ihre Gedanken im Spiegel ihrer Augen langsam herabschweben sehen wie die weißen Flocken in einer Schneekugel.
    »Und, verrätst du es mir?«, hakte ich schließlich nach. »Wie ist er nun gestorben?«
    »Gestorben? Wer?«, fragte sie bass erstaunt.
    »Hannibal. Du wolltest mir erzählen, wie er gestorben ist.«
    »Ach so, der. Na ja, also, er hat

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