Shantaram
mit einer Faust. Ich war so scheißgut darin, dass ich Briefe schreiben konnte mit dem Ding. Spürst du, wie fest sie ist? So was findest du nirgendwo anders, das sag ich dir. Karla ist nicht so gut, das weiß ich. Was ist los mit dir? Willst du mich nicht ficken? Bist du schwul oder was? Ich …«
Sie hielt meine Finger noch immer fest und umklammerte meine Hand, aber ihr Lächeln erstarb, und sie drehte langsam den Kopf beiseite.
»Ich … ich … ich glaube, mir wird schlecht.«
Ich zog meine Finger aus ihrer Vulva, löste ihre Hände von meinem Armgelenk und eilte ins Badezimmer. Hastig tränkte ich ein Handtuch mit kaltem Wasser, griff nach einer Plastikschüssel und lief zurück ins Zimmer. Lisa lag sonderbar verdreht auf dem Bett, die Hände auf dem Bauch. Ich rückte sie zurecht, damit sie bequemer lag, deckte sie mit einer leichten Baumwolldecke zu und legte ihr das kühle Handtuch auf die Stirn. Sie bewegte sich ein wenig, wehrte sich aber nicht. Sie sah völlig erschöpft aus.
»Er hat sich umgebracht«, murmelte sie mit geschlossenen Augen. »Dieser Hannibal. Sie wollten ihn nach Rom ausliefern und vor Gericht stellen. Deshalb hat er sich umgebracht. Wie findest du das? Nach den ganzen Kämpfen, den ganzen Elefanten, den großen Schlachten, da hat er sich einfach umgebracht. Das stimmt. Karla hat es mir gesagt. Karla sagt immer die Wahrheit … auch wenn sie lügt … das hat sie mal zu mir gesagt … ich sage immer die Wahrheit, auch wenn ich lüge … Scheiße, ich liebe dieses Mädchen. Weißt du, sie hat mich aus dem Palace befreit – und du auch – und sie hilft mir, von der Droge runterzukommen … clean zu werden, Lin … Gilbert … muss wegkommen von dieser Scheiße … ich liebe dieses Mädchen …«
Sie schlief ein. Ich wartete eine Weile ab, ob sie sich übergeben oder aufwachen würde, aber sie schlief tief und fest. Dann sah ich nach Tariq, der ebenfalls in tiefem Schlummer lag. Ich beschloss, ihn nicht zu wecken. In dieser absoluten Stille allein zu sein, war ein seltener Genuss. In einer Stadt, in der die Hälfte der vielen Millionen Einwohner obdachlos war, maßen sich Wohlstand und Macht in der Abgeschiedenheit, die man nur mit viel Geld erwerben konnte, und in der Einsamkeit, die man nur mit Macht verlangen und bekommen konnte. Die Armen in Bombay waren so gut wie nie allein. Und ich gehörte zu den Armen.
Dort, in diesem still atmenden Zimmer, drang kein Laut von der abendlichen Straße an mein Ohr. Ich konnte mich frei und unbeobachtet bewegen. Und die Stille wurde noch kostbarer, der Frieden noch wohltuender durch die beiden Schlafenden, die Frau und das Kind. Eine Fantasie umfing mich. Früher einmal hatte ich so ein Leben gekannt; früher hatte ich Frau und Kind gehabt und war der Mann in ihrem Leben gewesen.
Ich blieb an Karlas unordentlichem Schreibtisch stehen und erblickte mich selbst in einem Spiegel an der Wand darüber. Die kleine Fantasie von Heim und Familie erstarrte und zersprang in meinen Augen. Die Realität sah anders aus: Meine Ehe war zerbrochen, und ich hatte mein Kind, meine Tochter, verloren. In der Realität bedeuteten Lisa und Tariq mir ebenso wenig wie ich ihnen. In der Realität gab es keinen Ort und keinen Menschen, dem ich angehörte. Umgeben von Menschen und ausgehungert nach Alleinsein, war ich überall und immer einsam. Und, schlimmer noch, ich war hohl, leer, ausgehöhlt und ausgescharrt von dem Leben auf der Flucht. Ich hatte meine Familie, meine Jugendfreunde, mein Land und meine Kultur verloren – alles, was mich definiert und meine Identität ausgemacht hatte. Mir erging es so wie allen Fliehenden: Je erfolgreicher ich war, je länger und weiter ich rannte, desto mehr verlor ich von mir selbst.
Doch es gab Menschen, einige wenige, die zu mir durchdrangen, neue Freunde für das neue Selbst, an das ich mich gewöhnen musste. Prabaker, dieser kleine lebensfrohe Mann. Johnny Cigar, Qasim Ali, Jeetendra und seine Frau Radha: Helden des Chaos, die ihre zerfallende Stadt mit Bambusstäben aufrecht hielten und hartnäckig ihre Nachbarn liebten, so tief diese auch gesunken waren, so zerstört und so wenig liebenswert diese auch sein mochten. Khaderbhai, Abdullah, Didier und Karla. Und als ich in dem grüngerahmten Spiegel in meine eigenen harten Augen blickte, dachte ich an sie alle und fragte mich, warum diese Menschen mein Leben veränderten. Warum sie? Sie waren so unterschiedlich – die Reichsten und die Armseligsten, Gebildete und
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