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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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in der Hütte auf mich gewartet und dann die Hunde gehört hätte. Er hätte gespürt, dass da draußen etwas Schlimmes im Gange sei und sei losgegangen, um nachzusehen. Nachdem wir unser Abenteuer ausgiebig erörtert hatten, bereitete ich uns auf dem Boden drei Schlafstellen, und wir legten uns hin.
    Abdullah und Tariq schliefen sofort ein, doch bei mir wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich lag wach in der Dunkelheit, die nach Räucherwerk und Beedies und billigem Petroleum roch, und ließ die Ereignisse der letzten Tage durch ein inneres Sieb aus Zweifeln und Argwohn rieseln. Es kam mir vor, als sei in diesen Tagen so viel mehr geschehen als in den Monaten zuvor. Madame Zhou, Karla, Khaderbhais Ratstreffen, Sapna – es schien mir, als sei ich Persönlichkeiten ausgeliefert, die stärker oder jedenfalls rätselhafter waren als ich. Ich fühlte das kraftvolle Wogen und den Sog der Flut, die mich zur Bestimmung und zum Schicksal eines anderen Menschen trug. Es gab einen Plan, einen Zweck, das spürte ich deutlich. Es gab auch Hinweise, doch ich konnte sie in dieser ruhelosen Collage aus Stunden, Gesichtern, Worten nicht ausmachen. Die wolkengefleckte Nacht schien mir voller Zeichen zu sein, voller Omen, als wolle mich das Schicksal vor dem Aufbruch warnen oder fordere mich zum Bleiben auf.
    Tariq erwachte mit einem Ruck, fuhr hoch und blickte um sich. Meine Augen waren schon an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah Angst auf seinem Gesicht, dann Traurigkeit und Entschlossenheit. Er schaute auf den schlafenden Abdullah, dann auf mich. Geräuschlos stand er auf und zog seine Schlafmatte zu meiner herüber, kroch wieder unter seine dünne Decke und rollte sich neben mir ein. Ich streckte den Arm aus, und er bettete seinen Kopf darauf. Seine Haare rochen nach Sonne.
    Als die Erschöpfung mich schließlich übermannte und meine Zweifel und Fragen verschwammen, offenbarte mir die weise Klarheit des nahenden Schlafs ganz unerwartet, was all meine neuen Freunde – Khaderbhai, Karla, Abdullah, Prabaker und all die anderen – gemein hatten. Wir alle waren Fremde in dieser Stadt. Keiner von uns war hier geboren. Alle waren wir Flüchtlinge, Überlebende, von der Flut an die Strände der Inselstadt geschwemmt. Wenn es eine Verbindung gab zwischen uns, so war es die Verbindung der Exilanten, die Verwandtschaft der Verlorenen, der Einsamen und Enteigneten.
    Als ich das verstand, wurde mir bewusst, wie hart ich Tariq behandelt hatte, der doch auch ein Fremder war in diesem rauen und runtergekommenen Bruchstück der Stadt. Beschämt über meine selbstsüchtige Kälte und betroffen vom Mut und der Einsamkeit des kleinen Jungen, lauschte ich seinem Atem und ließ es zu, dass er mein schmerzendes Herz berührte. Manchmal lieben wir nur mit der Hoffnung. Manchmal weinen wir mit allem außer Tränen. Und am Ende bleiben nur: Liebe und ihre Pflicht, Trauer und ihre Wahrheit. Am Ende haben wir nichts anderes – nichts anderes, woran wir uns festhalten können, bis der Morgen dämmert.

D RITTER T EIL
     

S IEBZEHNTES K APITEL
     

    D ie Welt wird von einer Million bösen Männern, zehn Millionen dummen Männern und hundert Millionen Feiglingen gelenkt«, verkündete Abdul Ghani in seinem besten Oxford-Englisch und leckte die Überreste des süßen Honigkuchens von seinen kurzen, dicken Fingern. »Die bösen Männer – die Reichen, die Politiker und die religiösen Fanatiker – regieren mit ihren Entscheidungen die Welt und halten sie auf ihrem Kurs von Gier und Zerstörung.«
    Er hielt inne und blickte zu der Fontäne auf Abdel Khader Khans regennassem Innenhof hinaus, als befügelten das Wasser und der schimmernde Stein seine Gedanken. Dann nahm er sich einen weiteren kleinen Honigkuchen und schob ihn ganz in den Mund. Das bittende kleine Lächeln, mit dem er mich ansah, während er kaute und schluckte, schien zu sagen: Ich weiß, ich sollte nicht, aber ich kann einfach nicht anders.
    »Von den wirklich bösen Männern gibt es auf der ganzen Welt nur eine Million. Die richtig Reichen und richtig Mächtigen, deren Entscheidungen wirklich ins Gewicht fallen – das sind nicht mehr als eine Million. Die Dummen, von denen es zehn Millionen gibt, sind die Soldaten und Polizisten, die den Gesetzen der Bösen Geltung verschaffen. Es sind die stehenden Heere der zwölf wichtigsten Staaten und die Polizei dieser zwölf und zwanzig weiterer Staaten. Insgesamt gibt es von dieser Sorte Männern nur zehn Millionen, die Macht oder Einfluss

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