Shantaram
nächsten Moment ging hinter uns eine Tür auf, und Ghanis rundes Gesicht nahm wieder den üblichen leutseligen Ausdruck an. Wir drehten uns beide um und sahen Khaderbhai mit Tariq eintreten.
»Lin!«, sagte Khaderbhai, die Hände auf den Schultern des Jungen. »Tariq hat uns gerade erzählt, was er in den letzten drei Monaten alles bei dir gelernt hat.«
Drei Monate. Zuerst hatte ich es für unmöglich gehalten, die Gesellschaft des Jungen auch nur drei Tage lang zu ertragen. Doch dann waren die drei Monate viel zu schnell verstrichen, und als es an der Zeit war, ihn wieder nach Hause zu bringen, hatte ich das nur schweren Herzens getan. In dem Moment, als ich ihn bei seinem Onkel ablieferte, wusste ich, dass er mir fehlen würde. Er war ein guter Junge. Und er würde ein aufrechter Mann werden – einer von dem Schlag, wie ich es gerne geworden wäre.
»Wenn du nicht nach ihm geschickt hättest, wäre er noch bei uns«, erwiderte ich. Ein Hauch von Vorwurf lag in meiner Stimme. Es erschien mir wie grausame Willkür, dass der Junge ohne Vorwarnung für mehrere Monate zu mir gegeben und mir ebenso plötzlich wieder genommen worden war.
»Tariq hat seine Ausbildung in den letzten beiden Jahren an unserer Koranschule vervollständigt, und jetzt hat er bei dir sein Englisch verbessert. Es ist also an der Zeit, dass er aufs College geht, und ich glaube, er ist jetzt sehr gut vorbereitet.«
Khaderbhais Ton war sanft und geduldig. Sein herzlicher Blick, in dem ein leicht belustigtes Lächeln lag, war ebenso kraftvoll wie seine Hände, die auf den Schultern des ernsthaft blickenden Jungen vor ihm ruhten.
»Weißt du, Lin«, sagte er leise, »im Paschto gibt es ein Sprichwort, demzufolge man erst dann ein Mann ist, wenn man einem Kind freiwillig und aufrichtig seine Liebe schenkt. Und ein guter Mann ist man erst, wenn ein Kind diese Liebe freiwillig und aufrichtig erwidert.«
»Tariq ist ein prima Kerl«, sagte ich und erhob mich, um mich zu verabschieden. »Er wird mir fehlen.«
Ich wusste, dass er nicht nur mir fehlen würde. Auch Qasim Ali Hussein hatte ihn ins Herz geschlossen und den Jungen oft besucht, um ihn auf seine Runde durch den Slum mitzunehmen. Jeetendra und Radha hatten ihn mit ihrer Zuneigung verwöhnt. Johnny Cigar und Prabaker hatten ihn immer auf ihre gutmütige Art gefoppt und ihn bei ihrem allwöchentlichen Kricketmatch mitspielen lassen. Selbst Abdullah hatte das Kind mögen und achten gelernt. Nach der Nacht der wilden Hunde war er zweimal in der Woche gekommen, um Tariq in die Kampfkunst einzuweisen. Er lehrte den Jungen mit Stöcken, Tüchern und bloßen Händen zu kämpfen. Ich sah die beiden in jenen Monaten häufig auf dem schmalen Sandstrand in der Nähe des Slums trainieren, ihre klar umrissenen Silhouetten vor dem Horizont wie Figuren in einem Schattenspiel.
Ich gab Tariq als letztem die Hand. Als ich in seine ernsten, aufrichtigen schwarzen Augen blickte, begannen plötzlich Erinnerungen aus den vergangenen drei Monaten wie flache Kiesel über die füssige Oberfäche des Moments zu springen. Ich erinnerte mich an Tariqs ersten Kampf mit einem der Slumjungs. Ein Junge, der viel größer war als er, hatte ihn zu Boden gestoßen, und Tariq war es gelungen, ihn allein durch die Kraft seines Blicks zu besiegen. Er starrte den Jungen so lange an, bis dieser vor Scham schwach wurde und zu weinen begann. Tariq hatte ihn dann fürsorglich in den Arm genommen, und damit war ihre Freundschaft besiegelt. Ich erinnerte mich an Tariqs Begeisterung über den Englischunterricht, den ich ihm und bald auch anderen Kindern aus dem Slum gab, und an seinen schnellen Aufstieg zu meinem Assistenten, der mir half, die anderen Kinder zu unterweisen. Ich sah wieder vor mir, wie er mit uns gegen die erste Monsunüberschwemmung gekämpft und mit Stöcken und bloßen Händen einen Abflusskanal in den steinigen Boden gegraben hatte. Ich erinnerte mich daran, wie sein Gesicht eines Nachmittags, als ich gerade zu schreiben versuchte, hinter meiner wackeligen Tür hervorgelugt hatte. Ja! Was ist denn, Tariq?, hatte ich gereizt gefragt. Oh, Entschuldigung, hatte er gesagt. Willst du einsam sein?
Ich verließ Abdel Khader Khans Haus und begab mich allein auf den langen Fußmarsch zurück in den Slum. Ohne Tariq fühlte ich mich nicht mehr vollständig, und in dieser anderen Welt, in dieser Welt ohne ihn, fühlte ich mich plötzlich auch weniger wichtig und weniger wertvoll. Ich ging zu meiner Verabredung mit den
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