Shantaram
besitzen. Sie sind oft mutig, daran habe ich keinen Zweifel, aber sie sind auch dumm, weil sie ihr Leben für Ideale opfern und für Regierungen, die sie wie Schachbrettfiguren herumschieben. Auf lange Sicht verraten ihre Regierungen sie immer oder lassen sie im Stich. Die Staaten vernachlässigen niemanden sträflicher als die Helden ihrer Kriege.«
Der ovale Garten im Zentrum von Khaderbhais Villa war nur am Rand überdacht. In der Mitte strömte der Monsunregen auf den Springbrunnen und die Fliesen, so dicht und unablässig, als sei unser Teil der Welt der Wasserfall dieses überfießenden Himmelsflusses. Trotz des Regens sprudelte der Springbrunnen weiter, spritzte der Kaskade von oben seine zarte Fontäne entgegen. Wir saßen im Schutz des Verandadachs, wo es trotz der feuchten Luft trocken und warm war, schauten in den strömenden Regen hinaus und tranken süßen Tee.
»Und die hundert Millionen Feiglinge«, fuhr Abdul Ghani fort, den Griff der Teetasse fest in seinen fleischigen Fingern, »das sind die Bürokraten, die Bürohengste und die Federfuchser, die zulassen, dass das Böse regiert, und einfach wegschauen – der Leiter dieser Behörde, der Sekretär jenes Komitees und der Präsident einer anderen Vereinigung. Sie sind Manager, Funktionäre, Bürgermeister und Justizbeamte, und ihre Rechtfertigungen klingen immer gleich: Sie weisen darauf hin, dass sie nur Befehle von oben ausführen, dass sie nur ihre Arbeit tun, die mit ihrer persönlichen Gesinnung nichts zu tun habe, und dass es andere tun würden, wenn sie es nicht täten. Es gibt hundert Millionen Feiglinge, die ganz genau wissen, was läuft, aber nichts sagen und stillschweigend ein Dokument unterzeichnen, das einen Mann vor das Erschießungskommando bringt oder eine Million Menschen zu einem langsamen Tod durch Verhungern verurteilt.«
Er verstummte, starrte auf das Mandala aus Venen auf seinem Handrücken. Dann riss er sich aus seinen Betrachtungen und sah mich mit sanftem, herzlichem Lächeln und glänzenden Augen an.
»So sieht es aus«, schloss er. »Die Welt wird von einer Million böser Männer, zehn Millionen dummer Männer und hundert Millionen Feiglingen gelenkt. Wir anderen, die ganzen sechs Milliarden von uns, tun mehr oder weniger das, was man von ihnen verlangt.«
Er lachte und klatschte sich auf den Schenkel. Es war ein gutes Lachen, eines von der Sorte, das nicht nachlässt, bis jemand einstimmt, und so lachte ich auch mit.
»Weißt du, was das bedeutet, mein Junge?«, fragte er, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Sag es mir.«
»Diese Formel – von der einen Million, den zehn Millionen und den hundert Millionen – ist das eigentliche Grundprinzip der Politik. Marx hat sich geirrt. Es geht hier nicht um soziale Klassen, verstehst du, denn die Klassen sind alle in der Hand von diesen Wenigen. Diese drei Zahlen sind der Ursprung von Imperien und Rebellionen. Sie bilden die Formel, die über die letzten zehntausend Jahre unsere Zivilisationen hervorgebracht hat. Auf dieser Formel wurden die Pyramiden erbaut. Auf ihr gründen eure Kreuzzüge. Diese Formel hat die Welt in den Krieg geführt. Sie hat aber auch die Macht, Frieden zu schaffen.«
»Es sind nicht unsere Kreuzzüge«, korrigierte ich ihn, »aber ich verstehe, was du meinst.«
»Liebst du ihn?«, fragte er und überrumpelte mich mit diesem abrupten Themenwechsel vollkommen. Diese unvermittelten Sprünge waren typisch für seinen Gesprächsstil. Und er beherrschte diesen Trick so gut, dass es ihm auch später, als ich ihn besser kannte und mit den plötzlichen Schwenks und Abschweifungen rechnete, immer noch gelang, mich zu überraschen. »Liebst du Khaderbhai?«
»Ich … Was für eine Frage ist denn das?«, fragte ich lachend.
»Er empfindet große Zuneigung zu dir, Lin. Er spricht oft von dir.«
Ich runzelte die Stirn und wich seinem durchdringenden Blick aus. Eine tiefe Freude hatte mich durchzuckt, als ich hörte, dass Khaderbhai mich gern hatte und von mir sprach. Aber ich wollte nicht zugeben, nicht einmal vor mir selbst, wie viel mir seine Anerkennung bedeutete. Ein Wechselspiel widersprüchlicher Gefühle – Liebe und Misstrauen, Bewunderung und Groll – verwirrte mich, so wie meist, wenn ich an Khader Khan dachte oder mit ihm zusammen war. Diese Verwirrung trat als Gereiztheit in meinem Blick und meiner Stimme zutage.
»Was meinst du, wie lange wir noch warten müssen?«, wollte ich wissen und drehte mich zu der geschlossenen Doppeltür um, die
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