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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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zu den Privaträumen in Khaderbhais Haus führte. »Ich habe heute Nachmittag noch ein Treffen mit ein paar deutschen Touristen.«
    Abdul ignorierte die Frage und beugte sich über das Tischchen zwischen unseren Stühlen. »Du musst ihn lieben«, raunte er, und sein Flüstern klang beinahe kokett. »Möchtest du wissen, warum ich Abdel Khader aus tiefster Seele liebe?«
    Wir saßen so dicht zusammen, dass ich die feinen roten Äderchen in seinen Augäpfeln erkennen konnte. Die roten Linien liefen unter der Iris zusammen wie Finger, auf denen die rotgoldene Pupille ruhte. Seine schweren, dicken Tränensäcke vermittelten den Eindruck, als sei sein Herz beständig von Kummer und Sorge erfüllt. Sie schienen einen ansehnlichen Vorrat nicht vergossener Tränen in sich zu bergen, auch dann, wenn er scherzte und unbeschwert lachte.
    Wir warteten seit einer halben Stunde auf Khaderbhais Rückkehr. Als ich mit Tariq gekommen war, hatte Khaderbhai mich herzlich begrüßt und sich dann mit dem Jungen zum Gebet zurückgezogen. Ich war mit Abdul Ghani im Hof geblieben. Bis auf das Plätschern des Regens und das Gurgeln der überlasteten Springbrunnenpumpe war es vollkommen still. Am anderen Ende des Innenhofs drängten sich zwei Tauben Schutz suchend aneinander.
    Abdul und ich sahen uns an, doch ich sagte nichts, beantwortete seine Frage nicht. Willst du wissen, warum ich diesen Mann liebe? Natürlich wollte ich es wissen. Ich war Schriftsteller. Ich wollte alles wissen. Aber Ghanis Frage-und-Antwort-Spiel behagte mir nicht. Ich durchschaute ihn nicht, hatte keine Ahnung, wo das Ganze hinführen würde.
    »Ich liebe ihn, mein Junge, weil er in dieser Stadt so etwas wie ein sicherer Hafen ist. Tausende von Menschen finden Sicherheit, indem sie ihr Leben an seines binden. Ich liebe ihn, weil er sich eine Aufgabe gesetzt hat, von der andere Männer nicht einmal zu träumen wagen: Er will die Welt verändern. Meine einzige Sorge ist, dass er zu viel Zeit, zu viel Kraft und zu viel Geld in diese Herzenssache steckt. Ich habe deshalb schon die eine oder andere Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Aber so sehr ich ihn manchmal kritisiere, so sehr liebe ich ihn auch dafür, dass er sich der Sache mit solcher Hingabe widmet. Vor allem aber liebe ich ihn, weil er der einzige Mann ist, dem ich je begegnet bin – und auch der Einzige, dem du je begegnen wirst –, der die drei großen Fragen beantworten kann.«
    »Ach? Es gibt tatsächlich nur drei große Fragen?« Ich konnte mir einen sarkastischen Unterton nicht verkneifen.
    »Ja«, erwiderte er gleichmütig. »Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wohin gehen wir? Das sind die drei großen Fragen. Und wenn du ihn liebst, Lin, mein junger Freund, wenn du ihn wirklich liebst, dann wird er auch dir diese Geheimnisse verraten. Er wird dir den Sinn des Lebens enthüllen. Wenn du ihm zuhörst, wirst du begreifen, dass es wahr ist, was er sagt. Und dass du nie einem anderen Menschen begegnen wirst, der dir diese drei Fragen beantworten kann. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich bin mehrmals um die Welt gereist. Ich habe alle großen Lehrer befragt. Bevor ich Abdel Khader Khan kennen lernte und mein Leben mit seinem brüderlich verband, habe ich ein Vermögen, nein, mehrere Vermögen ausgegeben, um all die berühmten Seher und Mystiker und namhaften Wissenschaftler aufzusuchen. Aber keiner von ihnen konnte mir die drei großen Fragen beantworten. Dann habe ich Khader Khan kennen gelernt. Er hat mir die Antwort gegeben. Seit diesem Tag liebe ich ihn wie einen Bruder, meinen Bruder im Geiste. Und seit jenem Tag – bis jetzt, bis zu diesem Augenblick, den wir beide gerade teilen – diene ich ihm. Er wird dir alles erklären. Den Sinn des Lebens! Er wird das Rätsel für dich lösen.«
    Ghanis Stimme war eine neue Strömung in dem breiten, mächtigen Fluss, der mich trug: dem Fluss der Stadt und ihrer fünfzehn Millionen Leben. Sein dichtes, früher einmal braunes Haar war grau meliert und an den Schläfen bereits vollkommen weiß. Sein Schnurrbart, mehr grau als braun, saß über fein geschwungenen, fast femininen Lippen. Eine dicke Goldkette glänzte im nachmittäglichen Licht an seinem Hals. Sie passte zu dem Gold, das in seinen Augen funkelte. Und während wir uns in dieser sehnsuchtsvollen Stille ansahen, begannen sich in seinen rotgeränderten Augen Tränen zu sammeln.
    Ich konnte die Tiefe seines Gefühls nicht in Zweifel ziehen, aber ich konnte sie auch nicht ganz verstehen. Im

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