Shantaram
vorstellig werden muss. Wir haben heute Vormittag einen kleinen Schwatz gehalten, und da erwähnte er einen Ausländer, der vor ein paar Monaten dort inhaftiert war. Tigerbiss hat er ihn genannt. Ich habe keine Ahnung, wie du zu so einem Namen gekommen bist, Lin, aber ich stelle mal die wilde Vermutung an, dass es keine sehr schmeichelhafte Geschichte ist, n’estce pas ? Alors, er hat mir erzählt, dass der Tigerbiss – also du – von einer Frau verraten wurde.«
»Hat er einen Namen genannt?«
»Nein. Ich habe ihn danach gefragt, und er meinte, er wüsste nicht, wer sie ist. Allerdings sagte er, sie sei jung und sehr schön, aber es kann gut sein, dass er diese Details erfunden hat.«
»Wie verlässlich ist denn dieser Bekannte ?«
Didier schürzte die Lippen und schnaufte.
»Man kann sich darauf verlassen, dass er bedenkenlos lügt, betrügt und stiehlt. Weiter geht seine Verlässlichkeit nicht, fürchte ich, aber dafür ist er in diesen Bereichen besonders berechenbar. In diesem Fall hat er allerdings keinen Grund zu lügen, würde ich sagen. Ich glaube auch, dass du Opfer einer Frau geworden bist, Lin.«
»Tja, damit wären wir zu zweit, yaar. Du und ich, Bruder«, warf Vikram ein. Er leerte sein Bier und zündete sich dann einen der Stumpen an, die er nicht zuletzt als stilistische Ergänzung zu seinem Outfit rauchte.
»Du gehst jetzt schon seit drei Monaten mit Letitia aus«, stellte Didier mit ungehaltener und wenig mitfühlender Miene fest. »Wo liegt denn das Problem?«
»Wenn ich das wüsste! Ich führe sie ja ständig hierhin und dorthin aus, aber ich kann ums Verrecken nicht bei ihr landen. Ach was – landen! – Es ist weit und breit kein Landeplatz in Sicht. Ich bin noch nicht mal in der Luft! Diese Frau bringt mich noch um, yaar. Diese Liebe bringt mich noch um. Sie macht einen auf steif und zugeknöpft. Tja, einen Steifen hab ich andauernd, aber Aufknöpfen ist leider Fehlanzeige. Echt, Mann, ich bin kurz vorm Explodieren!«
»Weißt du was, Vikram«, sagte Didier, und seine Augen funkelten belustigt, »ich wüsste vielleicht eine Strategie, die funktionieren könnte.«
»Mann, ich bin zu allem bereit, Didier. So wie die Dinge jetzt stehen, von wegen Indira und so, muss ich jede Chance nutzen. Denn wer weiß, was morgen ist, na ?«
»Also gut, attention! Vorweggeschickt sei aber, dass dieser Plan jede Menge Mut, eine sorgfältige Planung und präzises Timing erfordert. Und wenn du nicht ganz genau aufpasst, könnte er dich das Leben kosten.«
»Das … das Leben?«
»Ja. Das muss dir klar sein. Aber wenn alles klappt, wirst du, glaube ich, ihr Herz für alle Zeiten erobern. Wie sieht’s aus, bist du dabei?«
»Worauf du einen lassen kannst. Ich bin so was von dabei, dass es kracht, yaar. Also, schieß los.«
»Das ist mein Stichwort – ich lass euch mal alleine, bevor ihr in die Details geht«, unterbrach ich die beiden, stand auf und gab ihnen die Hand. »Danke für den Tipp, Didier, ich weiß das zu schätzen. Und für dich, Vikram, hätte ich auch einen: Egal, was du gleich ausheckst, vielleicht fängst du mal damit an, Lettie nicht mehr deine ›englische Supertittenmieze‹ zu nennen. Jedes Mal, wenn sie das hört, zuckt sie zusammen, als hättest du gerade ein Karnickelbaby erwürgt.«
»Echt, Mann?«, fragte er mit verwirrtem Stirnrunzeln.
»Ja.«
»Aber das ist mein allergeilstes Kompliment, yaar. In Dänemark –«
»Du bist nicht mehr in Dänemark, Toto.«
»Okay, Lin«, räumte er lachend ein. »Hör mal, wenn du rausfindest, was da eigentlich gelaufen ist bei dieser Knastgeschichte … Ich meine, welches Arschloch dir das eingebrockt hat … na ja, also, wenn du Hilfe brauchst: Du kannst auf mich zählen. Alles klar?«
»Hab’s kapiert«, sagte ich und freute mich über seinen eindringlichen Blick. »Mach’s gut.«
Ich bezahlte und spazierte den Causeway entlang zum Kreisverkehr am Regal Cinema. Es war früher Abend, eine der drei besten Tageszeiten in Bombay. Der frühe Morgen, bevor die große Hitze einsetzt, und die tiefe Nacht, wenn sie abgeklungen ist, haben ihren eigenen Zauber, aber dann sind nur wenige Leute unterwegs, und alles ist ruhig. Der Abend dagegen lockt die Menschen an die Fenster, die Türen, auf den Balkon. Am Abend füllen sich die Straßen mit Scharen von Spaziergängern. Der Abend ist ein indigoblaues Zelt für den Zirkus Bombay, und die Familien streben mit ihren Kindern zu den Vergnügungen, die an jeder Straßenecke, an jeder Kreuzung
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