Shantaram
Angst. Hau ab, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, hau ab, solange es noch geht. Das ist deine letzte Chance …
Doch selbst in dieser Lage, als mein Verstand mir befahl, aus der Stadt zu fliehen, spürte ich eine tiefe schicksalsergebene Ruhe in mir. Ich würde Bombay nicht verlassen. Ich konnte Bombay nicht verlassen. Nichts wusste ich sicherer als das. Zum einen wegen Khaderbhai: Meine Schulden hatte ich ihm von dem Geld zurückgezahlt, das ich in seinen Diensten zusammen mit Khaled eingenommen hatte, doch es gab auch noch eine moralische Schuld, und die war schwerer zu begleichen. Ich verdankte ihm mein Leben, und das wussten wir beide. Er hatte mich an sich gedrückt, als ich aus dem Gefängnis kam, hatte geweint angesichts meines erbärmlichen Zustands und mir versprochen, dass ich unter seinem persönlichen Schutz stand, solange ich mich in Bombay aufhielt. So etwas wie eine Inhaftierung im Arthur-Road-Gefängnis würde mir nie mehr passieren. Er hatte mir einen goldenen Kettenanhänger geschenkt, auf dem das hinduistische Om -Symbol und das muslimische Symbol aus Sichelmond und Stern ineinander verschränkt waren. Ich trug ihn an einer silbernen Kette um den Hals. Auf der Rückseite stand Khaderbhais Name auf Urdu, Hindi und Englisch. Falls ich in Schwierigkeiten geriet, sollte ich die Medaille vorzeigen und verlangen, dass man sich sofort mit ihm in Verbindung setzte. Es war kein perfekter Schutz, doch er war besser als jeder andere, den ich seit Beginn meiner Flucht bekommen hatte. Khaders Bitte, dass ich in seinen Diensten bleiben solle, meine unausgesprochene Schuld ihm gegenüber und die Sicherheit, die ich als einer seiner Männer genoss – all das hielt mich in der Stadt.
Und dann war da natürlich Karla. Sie war verschwunden, während ich im Gefängnis saß, und keiner wusste, wo sie sich aufhielt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mit der Suche nach ihr hätte beginnen sollen. Aber sie liebte Bombay, weshalb es nicht unsinnig war, auf ihre Rückkehr zu hoffen. Und ich liebte sie. Deshalb schmerzte mich die Vorstellung, sie könne glauben, dass ich mich nach unserer Liebesnacht aus dem Staub gemacht hatte, weil ich bekommen hatte, was ich wollte. Dieses quälende Gefühl war in jenen Monaten sogar noch stärker als meine Liebe zu ihr. Ich konnte die Stadt nicht verlassen, ohne sie noch einmal zu sehen und ihr zu erklären, was in jener Nacht wirklich geschehen war. Und so blieb ich in Bombay, nur ein paar Schritte von der Ecke entfernt, an der wir uns zum ersten Mal begegnet waren, und wartete auf ihre Rückkehr.
Ich sah mich im Restaurant um, wo die anderen Gäste bedrückt den Nachrichten lauschten, und begegnete Vikrams Blick. Er lächelte mich an und wiegte den Kopf. Doch das Lächeln war traurig, und seine Augen waren gerötet von unterdrückten Tränen. Dennoch lächelte er, um mich zu trösten, mich zu beruhigen und in seine Verwirrtheit und Trauer einzubeziehen. Und als ich dieses Lächeln sah, verstand ich plötzlich, dass mich noch etwas anderes in der Stadt hielt. Mir wurde klar, dass mich das Herz, das indische Herz, von dem Vikram gesprochen hatte – das Land, in dem das Herz regiert –, in Bombay hielt, obwohl mir mehrere Stimmen in meinem Innern zuraunten, ich solle unter allen Umständen abhauen. Dieses indische Herz war für mich die Stadt. Bombay. Die Stadt hatte mich verführt. Ich liebte sie. Es gab einen ganzen Teil von mir, den sie erschaffen hatte, der nur existierte, weil ich hier lebte, weil ich ein Mumbaiker, ein Bombayer geworden war.
»Eine ganz üble Geschichte, yaar«, murmelte Vikram, als er sich wieder zu uns setzte. »Da wird noch eine Menge Blut fließen, yaar. Im Radio haben sie gesagt, dass Gangs von der Kongresspartei in Delhi von Haus zu Haus ziehen und Streit mit den Sikhs suchen.«
Wir verfielen alle drei in Schweigen, versunken in unsere Gedanken und Sorgen. Dann brach Didier das Schweigen.
»Ich glaube, ich habe einen neuen Anhaltspunkt für dich«, sagte er leise und holte uns damit ruckartig in die Gegenwart zurück.
»In Sachen Gefängnis?«
»Oui.«
»Erzähl.«
»Es ist nicht viel. Nur eine kleine Ergänzung zu dem, was du ohnehin schon weißt, nämlich dass es jemand war, der ziemlich viel Einfluss hatte – das hat dir ja dein Gönner Abdel Khader bereits gesagt.«
»Was es auch ist, Didier, es bringt mich auf jeden Fall weiter.«
»Na gut. Ich habe da einen … einen Bekannten, der jeden Tag bei der Polizeiwache von Colaba
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