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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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die Arme um die Schultern ihrer Nachbarn gelegt, und einem hysterisch klingenden Nachrichtensprecher lauschten, der auf Hindi Einzelheiten über den Mord berichtete. Vikram hätte die Sendung auch von unserem Tisch aus anhören können – der Ton war voll aufgedreht, und wir verstanden jedes Wort. Etwas anderes hatte ihn an die überfüllte Theke getrieben: ein Gefühl der Solidarität und Verbundenheit und das Bedürfnis, diese überraschende Nachricht durch den engen Körperkontakt mit seinen Landsleuten beim Hören auch zu spüren.
    »Zeit für unseren Drink«, schlug ich vor.
    »Ja, Lin«, antwortete Didier, stülpte die Unterlippe vor und versuchte, die verstörende Nachricht mit einer schwungvollen Handbewegung abzutun. Doch die Geste blieb wirkungslos. Er starrte mit leerem Blick auf die Tischplatte. »Ich kann es nicht fassen. Unfassbar. Indira Gandhi, tot … Das ist einfach unvorstellbar. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen, Lin. Das kann … ich weiß nicht … gar nicht sein.«
    Ich bestellte für Didier und ließ meine Gedanken schweifen, während wir der schrillen Klage des Radiosprechers lauschten. Ganz egoistisch überlegte ich, ob der Mord meine Sicherheit beeinträchtigen könnte und wie er sich wohl auf die Wechselkurse auf dem Devisenschwarzmarkt auswirken würde. Indira Gandhi hatte einige Monate zuvor einen Angriff auf das Allerheiligste der Sikhs, den Goldenen Tempel in Amritsar, angeordnet. Ziel war, eine bis an die Zähne bewaffnete Einheit militanter Sikhs zu vertreiben, die unter Führung eines gut aussehenden, charismatischen Separatisten namens Bhindranwale in den Tempel eingedrungen waren und sich dort verschanzt hatten. Die Sikhs nahmen den Tempelkomplex als Basis und führten wochenlang Strafaktionen gegen Hindus und, wie sie es nannten, aufsässige Sikhs durch. Angesichts der bevorstehenden Wahlen, denen ein gnadenloser Wahlkampf vorausgegangen war, hatte Indira Gandhi gefürchtet, einen schwachen und zaghaften Eindruck zu machen, wenn sie nicht handelte. Deshalb hatte sie sich von den zugegebenermaßen begrenzten Optionen für diejenige entschieden, die viele für die schlechteste hielten: Sie hatte die Armee in den Kampf gegen die aufrührerischen Sikhs geschickt.
    Der Militäreinsatz zur Vertreibung der militanten Sikhs aus dem Goldenen Tempel lief unter dem Codenamen Operation Bluestar. Bhindranwales Männer, die sich als Freiheitskämpfer und Märtyrer für die sikhistische Sache betrachteten, leisteten der Armee erbittert und todesmutig Widerstand. Mit dem Ergebnis, dass mehr als sechshundert Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Schließlich und endlich war der Goldene Tempel geräumt, und Indira hatte bewiesen, dass sie alles andere als schwach und zaghaft war. Sie hatte ihr Ziel erreicht und die hinduistische Kernwählerschaft beruhigt, doch der Kampf der Sikhs um einen eigenen Staat, Khalistan, hatte zahlreiche neue Märtyrer gewonnen. Und in den Herzen der Sikhs auf der ganzen Welt wuchs der grimmige Entschluss, die gottlose, blutige Invasion ihres heiligsten Schreins zu rächen.
    Das Radio an der Theke lieferte keine weiteren Details, nur immer wieder die klagende Meldung, dass Indira Gandhi ermordet worden sei. Wenige Monate nach der Operation Bluestar hatten Indiras eigene Sikh-Leibwächter sie getötet. Die Frau, die von den einen als Despotin geschmäht, von anderen als Mutter Indien verehrt und so stark mit dem Land identifiziert worden war, dass sie untrennbar mit dessen Vergangenheit und Schicksal verbunden schien, war tot.
    Ich musste nachdenken. Ich musste die Risiken abschätzen. Die Sicherheitskräfte im ganzen Land würden jetzt in besonderer Alarmbereitschaft sein. Das Attentat würde Konsequenzen haben – Krawalle, Morde, Plünderungen und Brände, wenn man sich für Indiras Ermordung an den Sikh-Gemeinschaften rächte. Das wusste ich. Ganz Indien wusste es. Der Radiosprecher berichtete gerade, dass Truppen in Delhi und im Punjab stationiert werden sollten, um die erwarteten Unruhen im Keim zu ersticken. Die Spannungen würden für mich, einen gesuchten Verbrecher, der für die Mafia arbeitete und sich mit einem abgelaufenen Visum im Land aufhielt, neue Gefahren mit sich bringen. Einen Moment lang, während Didier mir gegenüber sich seinen Drink zu Gemüte führte, während die Männer im Restaurant stumm und konzentriert lauschten und das Licht des frühen Abends unsere Haut mit einem rotgoldenen Hauch überzog, hämmerte mein Herz vor

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