Shantaram
berühren, doch er zog sie an den Schultern hoch und gab ihnen der Reihe nach die Hand. Als er sich schließlich abwandte, gingen sie aufrecht und mit hocherhobenem Kopf davon.
»Wie war deine Zusammenarbeit mit Khaled?«, fragte Khader, während wir durch die Hafenanlagen zurückgingen.
»Sehr gut. Ich mag ihn. Und ich habe gern mit ihm gearbeitet. Ich wäre immer noch bei ihm, wenn du mich nicht zu Madjid geschickt hättest.«
»Und wie ist das ? Wie läuft es mit unserem Madjid?«
Ich zögerte. Karla hatte einmal gesagt: Wenn Männer wegschauen, verraten sie, was sie denken, und wenn sie zögern, verraten sie, was sie fühlen. Bei Frauen, hatte sie hinzugefügt, ist es andersherum.
»Ich lerne, was ich wissen muss. Er ist ein guter Lehrer.«
»Aber … zu Khaled Ansari hast du eine persönlichere Beziehung entwickelt, nicht wahr?«
Er hatte recht. Obwohl Khaled immer zornig und ein Teil seines Herzens immer hasserfüllt war, hatte ich ihn gern. Madjid war freundlich, geduldig und großzügig, doch ich empfand nichts für ihn, verspürte nur ein vages, warnendes Unbehagen. Nachdem ich vier Monate im Devisenschwarzhandel gearbeitet hatte, hatte Khaderbhai entschieden, dass ich das Goldschmugglergewerbe erlernen sollte, und mich zu Madjid Rhustem geschickt. In Madjids Haus in Juhu, einem Haus mit Blick aufs Meer und die Villen der wohlhabenden Elite Bombays, hatte ich erfahren, auf welchen Wegen Gold nach Indien geschmuggelt wurde. Khaleds Formel von Habgier und Kontrolle galt auch für den Goldhandel. Die strikte staatliche Beschränkung der Goldimporte lief Indiens unstillbarem Hunger nach dem Edelmetall diametral entgegen.
Der grauhaarige Madjid war für Khaders beträchtliche Goldimporte zuständig, und das seit fast zehn Jahren. Mit unendlicher Geduld hatte er mir alles beigebracht, was ich seiner Ansicht nach über Gold und das Schmugglerhandwerk wissen musste. Unterrichtsstunde um Unterrichtsstunde hatte er mich mit seinen dunklen Augen unter den buschigen grauen Brauen fixiert. Obwohl er eine große Zahl starker Männer befehligte und ihnen gegenüber, wenn nötig, erbarmungslos sein konnte, blickten seine wässrigen Augen mich immer gütig an. Dennoch empfand ich ihm gegenüber nichts außer diesem seltsamen Unbehagen. Wenn ich nach dem Unterricht sein Haus verließ, wurde ich immer von einer Welle der Erleichterung erfasst – einer Erleichterung, die den Klang von Madjids Stimme und das Bild seines Gesichts aus meinem Kopf spülte wie ein Wasserstrahl den Schmutz von der Hand.
»Ja. Zu Madjid habe ich keinen Draht. Aber wie gesagt, er ist ein guter Lehrer.«
»Linbaba«, polterte Khader mit seiner dunklen Stimme den Namen, den die Slumbewohner benutzten, »ich mag dich.«
Ich errötete, überwältigt von meinen Emotionen: Es fühlte sich an, als hätte mein eigener Vater diese drei Worte zu mir gesprochen. Doch mein eigener Vater hätte so etwas nie gesagt. Als ich merkte, welche Macht diese einfachen Worte über mich hatten – welche Macht Khader über mich hatte –, wurde mir bewusst, dass er in meinem Leben inzwischen voll und ganz die Vaterrolle eingenommen hatte. In meinem tiefsten, verborgensten Innern wünschte sich der kleine Junge, der ich einmal gewesen war, dass Khader wirklich mein Vater wäre – mein leiblicher Vater.
»Wie geht es Tariq?«, fragte ich ihn.
»Tariq geht es sehr gut, nushkur Allah. Gott sei Dank.«
»Er fehlt mir. Tariq ist ein prima Kerl«, sagte ich. Mit Tariq fehlte mir zugleich auch meine eigene kleine Tochter. Meine Familie. Meine Freunde.
»Du fehlst ihm auch«, sagte Khader langsam und, wie mir schien, mit einem gewissen Bedauern. »Sag, Lin, was willst du eigentlich? Warum bist du hier? Was willst du hier in Bombay wirklich?«
Wir näherten uns seinem geparkten Wagen. Nasir rannte auf seinen kurzen stämmigen Beinen voraus, um die Türen zu öffnen und den Motor anzulassen. Khader und ich standen dicht beieinander und starrten uns an.
»Ich will frei sein«, sagte ich.
»Du bist doch frei«, erwiderte er.
»Nicht wirklich.«
»Meinst du wegen Australien?«
»Ja. Nicht nur, aber hauptsächlich.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Hier in Bombay wird dir nichts passieren. Darauf gebe ich dir mein Wort. Solange du die Medaille mit meinem Namen um den Hals trägst, solange du für mich arbeitest, wird dir nichts geschehen. Hier bist du in Sicherheit, inshallah.«
Er hielt meine Hände in seinen und murmelte einen Segen, so wie er es mit dem
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