Shantaram
streiten, und das Haus würde einstürzen. In der gesamten Menschheitsgeschichte haben wir immer wieder versucht, eine gemeinsame Methode der Längenmessung zu etablieren. Kannst du mir auf dieser kleinen geistigen Reise folgen?«
»Ja, natürlich«, erwiderte ich lachend und fragte mich zugleich, wo mich der Mafia-Don mit seiner Argumentation wohl hinführen wollte.
»Nun, nach der Revolution in Frankreich beschlossen die Wissenschaftler und Beamten dort, endlich ein sinnvolles System der Längen- und Gewichtsmessung einzurichten. Sie führten ein Dezimalsystem ein, das auf einer Längeneinheit namens Meter beruhte, nach dem griechichen Wort metron, das wiederum Maß bedeutet.«
»Okay …«
»Der ursprüngliche Ansatz für die Definition des Meters war, den Abstand zwischen Nordpol und Äquator durch zehn Millionen zu teilen. Dieser Rechenweg beruhte allerdings auf der idealisierten Annahme, die Erde sei eine geometrische Kugel, was sie, wie wir wissen, aber nicht ist. Ersatzweise wurde der Meter dann definiert als die Distanz zwischen zwei feinen Linien auf einem Stab aus einer Platin-Iridium-Legierung.«
»Platin …«
»Iridium. Ja. Aber obwohl diese Platin-Iridium-Stäbe sehr hart sind, schrumpfen und zerfallen sie, wenn auch ausgesprochen langsam, und so veränderte sich das Längenmaß ständig. Es ist noch gar nicht so lange her, als den Wissenschaftlern klar wurde, dass sich der Platin-Iridium-Stab, den sie als Maß benutzen, in, sagen wir, tausend Jahren gegenüber der heutigen Länge ziemlich verändert haben würde.«
»Und? Ist das … ein Problem?«
»Nicht beim Haus- oder Brückenbau«, erwiderte Khaderbhai, der meinen Einwand ernster nahm, als ich ihn gemeint hatte.
»Aber für die Wissenschaftler ist er nicht akkurat genug«, steuerte ich etwas sachlicher bei.
»Genau. Sie wollten eine unveränderliche Bezugsgröße, an der sie alle anderen Messungen ausrichten konnten. Und nach verschiedenen anderen Ansätzen wurde der Meter letztes Jahr schließlich als diejenige Entfernung definiert, die ein Lichtphoton im Vakuum innerhalb einer Dreihunderttausendstel Sekunde zurücklegt. Da stellt sich natürlich die Frage, wie man sich auf die Sekunde als Zeiteinheit geeinigt hat – auch das ist eine faszinierende Geschichte. Ich erzähle sie dir gern, wenn du möchtest, ehe wir mit dem Meter weitermachen.«
»Ich … ich glaube, wir bleiben lieber beim Meter«, lehnte ich ab und musste unwillkürlich lachen.
»Gut. Ich nehme an, du weißt, was ich sagen will – wenn wir Häuser bauen, Land aufteilen und so weiter und so weiter, vermeiden wir Chaos, indem wir uns auf eine gemeinsame Definition für eine bestimmte Längeneinheit einigen. Wir nennen diese Längeneinheit Meter und legen nach einigem Herumprobieren eine allgemein anerkannte Methode fest, wie wir die Länge dieser Grundeinheit bestimmen. Und genauso ist es bei zwischenmenschlichen Beziehungen: Auch dort können wir Chaos nur vermeiden, indem wir uns auf eine gemeinsame Maßeinheit für die Moral einigen.«
»Ich kann dir folgen.«
»Zurzeit liegt den meisten von unseren Definitionen für die Maßeinheit von Moral eine jeweils vergleichbare Absicht zugrunde, doch in den Details unterscheiden sie sich. In einem Land segnen die Priester die Soldaten, die in den Krieg ziehen, und im anderen segnen die Imame ihre Soldaten, die gegen die anderen kämpfen werden. Und alle, die an dem großen Morden beteiligt sind, behaupten, Gott stehe auf ihrer Seite. Es gibt keine objektive und allgemein akzeptable Definition für Gut und Böse. Und solange wir keine haben, werden wir weiterhin unser eigenes Handeln rechtfertigen und das der anderen verurteilen.«
»Und du setzt die Physik des Universums als eine Art Platin-Iridium-Stab ein?«
»Na ja, ich denke, dass unsere Definition, was ihre Exaktheit angeht, der Messmethode mit dem Lichtphoton näherkommt als dem Platin-Iridium-Stab, aber im Prinzip hast du recht. Wenn wir nach einer objektiven Methode suchen, Gut und Böse zu messen, nach einer Methode, die allen Menschen vernünftig erscheint, können wir nichts Besseres tun, als das Wesen des Universums zu studieren, seine Eigenart also, die für sein Geschick verantwortlich ist: das ständige Streben zu immer größerer Komplexität. Das Beste, was wir tun können, ist, uns am Wesen des Universums zu orientieren. Übrigens fordern uns auch alle heiligen Schriften der großen Religionen dazu auf. Der Heilige Koran zum Beispiel hält uns oft an,
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