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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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zog eine Augenbraue hoch, amüsiert oder missbilligend oder beides. Es war ein Gesichtsausdruck, den ich mehr als einmal bei Karla gesehen hatte. Vielleicht hatte er meinen leicht spöttischen Ton als unhöflich empfunden. Was nicht in meiner Absicht lag. Meine Bemerkung war eher abwehrend ausgefallen, weil seine Argumentation von bestechender Logik war und ich sie absolut überzeugend fand. Doch vielleicht war Khader auch einfach nur überrascht. Viel später erzählte er mir einmal, am meisten habe ihn zu Anfang für mich eingenommen, dass ich keine Angst vor ihm hatte und dass meine furchtlosen Reaktionen, die oft frech und verrückt wirkten, ihn verblüfften. Was immer ihn nun zu seiner Miene bewog – es dauerte jedenfalls eine Weile, bis er fortfuhr.
    »Im Wesentlichen hast du recht«, sagte er schließlich. »Alles, was die Entwicklung zur ultimativen Komplexität begünstigt, fördert oder beschleunigt, ist gut.« So bedächtig und präzise, wie er diese Worte aussprach, war ich mir sicher, dass er sie schon oft geäußert hatte. »Alles, was die Entwicklung zur endgültigen Komplexität erschwert, hemmt oder verhindert, ist böse. Das Wunderbare an dieser Definition von Gut und Böse ist, dass sie sowohl objektiv als auch allgemein akzeptabel ist.«
    »Gibt es denn überhaupt etwas Objektives?«, fragte ich, in der festen Annahme, mich wieder auf sichererem Boden zu bewegen.
    »Wenn wir sagen, dass diese Definition von Gut und Böse objektiv ist, meinen wir, dass sie so objektiv ist, wie wir das nach bestem Wissen und Gewissen zum heutigen Zeitpunkt sagen können. Diese Definition basiert auf dem, was wir über das Wesen des Universums wissen, nicht aber auf dem Offenbarungswissen eines bestimmten Glaubens oder einer politischen Bewegung. Die Definition findet sich in den besten Grundsätzen all dieser Gruppierungen wieder, doch sie basiert nicht auf dem, was wir glauben, sondern auf dem, was wir wissen. In diesem Sinne ist sie objektiv. Natürlich verändert sich das, was wir über das Universum und unseren Platz darin wissen, ständig, mit jeder neuen Information, jeder neuen Erkenntnis. Wir können nie absolut objektiv sein, das stimmt wohl, aber wir können mehr oder weniger objektiv sein. Und wenn wir Gut und Böse auf der Grundlage dessen definieren, was wir wissen – unserem aktuellen Wissensstand entsprechend –, sind wir so objektiv, wie wir es innerhalb der Grenzen unseres unvollkommenen Verstandes nur sein können. Kannst du mir da zustimmen?«
    »Wenn du meinst, dass ›objektiv‹ nicht ›absolut objektiv‹ heißt: ja. Aber wie sollen die verschiedenen Religionen eine solche Definition jemals für allgemein akzeptabel halten – ganz zu schweigen von den Atheisten, den Agnostikern und verwirrten Seelen wie mir? Ich möchte ja niemanden vor den Kopf stoßen, aber meiner Ansicht nach haben die meisten Gläubigen ein viel zu ausgeprägtes Eigeninteresse an ihrem religiösen Vertriebssystem, um es mal so auszudrücken, als dass sie sich je auf etwas einigen könnten.«
    »Das ist ein berechtigter Einwand, und ich fühle mich keineswegs vor den Kopf gestoßen«, sagte Khader versonnen, während er die Fischer betrachtete, die schweigend zu seinen Füßen saßen. Er lächelte sie freundlich an und fuhr fort: »Wenn wir sagen, dass diese Definition von Gut und Böse allgemein akzeptabel ist, meinen wir, dass jeder rationale und vernünftige Mensch – jeder rationale und vernünftige Hindu, Muslim, Buddhist, Christ, Jude und durchaus auch jeder Atheist – sie als vernünftige Definition von Gut und Böse akzeptieren kann, weil sie auf unserem Wissen über das Wesen des Universums gründet.«
    »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte ich, als er verstummte. »Aber ich kann dir nicht ganz folgen, was die … na ja, die Physik des Universums angeht. Warum sollten wir die zur Grundlage unserer Moral machen?«
    »Vielleicht wird es durch ein Beispiel klarer, Lin, durch eine Analogie. Nehmen wir die Längenmessung, denn die ist heutzutage sehr wichtig. Du stimmst mir sicher zu, dass es notwendig ist, ein gemeinsames Längenmaß zu definieren, oder?«
    »Du meinst, Yards und Meter und so weiter?«
    »Genau. Wenn wir keine allgemein anerkannte Bezugsgröße für die Längenmessung hätten, könnten wir uns niemals einigen, wie viel Land dir und wie viel Land mir gehört oder wie wir die Balken zurechtsägen müssen, wenn wir ein Haus bauen. Es würde Chaos herrschen. Wir würden uns um das Land

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