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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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gewesen von Ängsten, Hochgefühl und Grauen. Und wie in jener Nacht vor vielen Jahren stand ich auf, bevor der Morgen sich regte, und traf im Dunkeln meine Vorbereitungen.
    Kurz nach dem Morgengrauen fuhren wir mit dem Zug zum Chaman-Pass. Zwölf Mann aus unserer Gruppe waren im Zug, aber wir sprachen während der mehrstündigen Fahrt kein einziges Wort. Nasir saß neben mir, und wir waren die meiste Zeit alleine, doch er schwieg beharrlich. Die hellen Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, sah ich zum Fenster hinaus und versuchte die aufregende Landschaft in mich aufzunehmen.
    Die Zugfahrt von Quetta nach Chaman war ein Juwel des berühmten Eisenbahnnetzes auf dem Subkontinent. Die Gleise schlängelten sich durch tiefe Schluchten und überquerten Flüsse von berückender Schönheit. Als wären sie Worte aus Gedichten, sprach ich stumm die Namen der Städte an der Strecke nach. Von Kuchlagh nach Bostan, bei Yaru Karez über den Fluss, dann hinauf nach Shadizai. Bei Gulistan ging es wieder steil bergauf, dann in großem Bogen entlang dem uralten ausgetrockneten See bei Qila Abdullah. Der Diamant in der Krone dieser Zwillingsbänder aus Eisen war dann der Kojak-Tunnel, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts in mehrjähriger Arbeit von den Briten angelegt worden war, sich vier Kilometer durch den Fels wand und der längste Tunnel auf dem Subkontinent war.
    Bei Barah Khan Kili nahm der Zug ein paar scharfe Kurven, und am letzten Halt vor Chaman stiegen wir aus, gemeinsam mit einigen staubbedeckten Einheimischen. Ein mit bunten Bildern bemalter Lastwagen mit Plane erwartete uns, in den wir einstiegen, als die anderen Reisenden verschwunden waren. Der Laster fuhr auf die Hauptstraße Richtung Chaman. Bevor wir die Stadt erreichten, bog er auf eine Seitenstraße ab, die an einem verlassenen Pfad neben einigen Bäumen und Grasflächen mit Buschwerk endete, etwa dreißig Kilometer nördlich von der Hauptstraße und dem Chaman-Pass.
    Wir stiegen aus, und als der Laster davonfuhr, stießen wir zu den Männern, die dort im Schatten der Bäume auf uns warteten. Zum ersten Mal waren wir nun vollzählig, dreißig Männer, und einen Moment lang musste ich daran denken, dass auch Häftlinge sich in solchen Gruppen im Gefängnishof versammeln. Die Männer wirkten hart und entschlossen, und obwohl manche von ihnen sehr mager waren, sahen sie gesund und stark aus.
    Ich nahm meine Sonnenbrille ab. Als ich den Blick über die Gesichter gleiten ließ, fiel mir ein Mann auf, der mich aus dem Herz der Dunkelheit anzustarren schien. Er musste Ende vierzig, Anfang fünfzig sein, vermutlich der älteste Mann in der Gruppe nach Khaderbhai. Auf seinen kurzen grauen Haaren saß eine runde braune afghanische Kappe, wie auch ich sie trug. Er hatte eine kurze gerade Nase und ein langes knochiges Gesicht mit eingefallenen Wangen, dessen Konturen so scharf umrissen waren, als sei es mit der Machete zurechtgehackt worden. Unter seinen Augen hingen schwere Tränensäcke, und seine Augenbrauen liefen so spitz zu wie die Flügel einer Fledermaus. Doch es war vor allem sein Blick, der mich in Bann zog.
    Als ich dem verrückten Blick aus diesen Augen nicht auswich, begann der Mann auf mich zuzustolpern. Nach ein paar schlurfenden Schritten wurde er plötzlich schneller und brachte die dreißig Meter Entfernung zwischen uns mit weit ausholenden raubtierartigen Sprüngen hinter sich. Ich vergaß, dass ich eine Pistole trug, griff instinktiv nach meinem Messer und trat mit dem rechten Fuß einen halben Schritt zurück. Ich kannte solche Augen. Ich kannte den Blick. Der Mann wollte mit mir kämpfen, mich vielleicht sogar umbringen.
    Er schrie etwas in einem Dialekt, den ich nicht verstand, und im letzten Moment, bevor er mich erreichte, trat Nasir wie aus dem Nichts vor mich und versperrte dem Mann den Weg. Nasir schrie etwas, doch der andere achtete nicht darauf, sondern blickte über Nasirs Schulter und schrie seine Frage, wieder und wieder. Nasir brüllte eine Antwort. Der Verrückte versuchte mit beiden Händen, Nasir aus dem Weg zu schieben, doch er hätte ebenso gut versuchen können, einen Baum zu verrücken. Der stämmige Afghane rückte keinen Millimeter beiseite, sodass sein Gegenüber schließlich gezwungen war, ihn anzusehen.
    Die anderen hatten sich um uns geschart. Nasir starrte den Verrückten an und redete nun in ruhigem bittendem Tonfall auf ihn ein. Ich wartete ab, zum Kampf bereit. Wir haben noch nicht mal die Grenze überquert, und ich

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