Shantaram
musst. Das ist eine Neun-Millimeter mit einem Zwanzig-Schuss-Magazin. Du kannst sie auf Einzelfeuer oder Automatik stellen. Es ist nicht die beste Waffe der Welt, aber sie ist zuverlässig, und wo wir hingehen, gibt es nur noch eine leichte Waffe, in deren Magazin mehr Munition passt, und das ist die Kalaschnikow. Ich möchte, dass du die Pistole ab jetzt deutlich sichtbar trägst, und zwar immer. Du wirst damit essen, du wirst damit schlafen, und wenn du dich wäschst, wirst du sie in Reichweite haben. Ich möchte, dass jeder in unserer Gruppe und jeder, der uns sieht, sie bemerkt. Hast du das verstanden?«
»Ja«, sagte ich und starrte auf die Waffe in meinen Händen.
»Ich habe dir gesagt, dass auf den Kopf jedes Ausländers, der die Mudjahedin unterstützt, ein Preis ausgesetzt ist. Ich will, dass jeder, der vielleicht darüber nachdenkt, diese Belohnung mit deinem Kopf zu ergattern, auch an die Stechkin an deiner Hüfte denkt. Weißt du, wie man eine Pistole reinigt?«
»Nein.«
»Gut. Ich werde dir zeigen, wie es gemacht wird. Dann musst du versuchen zu schlafen. Wir brechen morgen früh um fünf, vor Sonnenaufgang, nach Afghanistan auf. Das Warten ist vorüber. Die Zeit ist gekommen.«
Khaderbhai zeigte mir, wie man die Stechkin reinigte. Es war komplizierter, als ich erwartet hatte, und er brauchte fast eine Stunde, um mir die Pflege, Reparatur und den Umgang mit der Waffe zu erklären. Es war eine faszinierende Stunde, und Männer und Frauen, die vertraut sind mit Gewalt, wissen, was gemeint ist, wenn ich sage, dass ich regelrecht berauscht davon war. Ich gestehe durchaus beschämt, dass ich diese Stunde mit Khader, in der er mir beibrachte, wie ich die Stechkin benutzen und reinigen sollte, mehr genoss als die Hunderte von Stunden, in denen ich ihm zuhörte, um seine Philosophie zu verstehen. Und ich fühlte mich ihm nie näher als an diesem Abend, als wir, über meine Liege gebeugt, die tödliche Waffe zerlegten und wieder zusammensetzten.
Nachdem Khader gegangen war, schaltete ich das Licht aus und legte mich hin, doch ich konnte nicht einschlafen. Ich war hellwach. Zuerst gingen mir die Geschichten durch den Kopf, die Khader erzählt hatte.Ich bewegte mich im Geiste durch Bombay, die Stadt, die mir inzwischen so vertraut war, zu jener Zeit, die Khader geschildert hatte. Ich sah den Khan als jungen Mann vor mir, kraftvoll und gefährlich, wie er für Chota Gulab kämpfte, den Gangsterboss mit der Rosennarbe auf der Wange. Ich kannte andere Teile von Khaders Lebensgeschichte durch einige der Goondas, die in Bombay für ihn arbeiteten. Sie hatten mir erzählt, wie Khaderbhai sich Gulabs kleines Reich zu eigen gemacht hatte, als der Narbige vor einem seiner Kinos ermordet wurde. Sie berichteten von den Bandenkriegen, die danach in der Stadt ausbrachen, und von Khaders Mut und seiner Gnadenlosigkeit, wenn er seine Feinde vernichtete. Ich wusste auch, dass Khaderbhai einer der Begründer des Klansystems war, das den Frieden in Bombay wiederherstellte, indem es Gebiete und Verdienste zwischen den verbliebenen Klans aufteilte.
In der Dunkelheit, die von der Pistole und dem Reinigungsöl nach Leinen und gewachsten Böden roch, sann ich darüber nach, warum Khaderbhai in den Krieg ziehen wollte. Er war nicht gezwungen dazu – es gab Hunderte von Männern wie mich, die bereit waren, an seiner Statt zu sterben. Ich sah sein eigenartig strahlendes Lächeln vor mir, als er mir von seiner ersten Begegnung mit Chota Gulab erzählte. Ich sah seine Hände, seine lebhaften jugendlich schwungvollen Bewegungen, als er mir Reinigung und Benutzung der Pistole erklärte. Und mir kam der Gedanke, dass er vielleicht einfach mit uns loszog und sein Leben aufs Spiel setzte, weil er begierig war nach den wilden Tagen seiner Jugend. Der Gedanke beunruhigte mich, weil ich mir sicher war, dass zumindest ein Teil davon zutraf. Doch sein anderes Motiv – dass er den Zeitpunkt für richtig hielt, sein Exil zu beenden und seine Heimat und seine Verwandten aufzusuchen – machte mir noch mehr zu schaffen. Ich konnte seine Worte nicht vergessen. Die Blutfehde, die so viele Leben gekostet und ihn aus seiner Heimat vertrieben hatte, war nur beendet worden durch sein Versprechen, nie wieder zurückzukehren.
Nach einer Weile drifteten meine Gedanken ab, und ich durchlebte noch einmal, Moment für Moment, die lange Nacht vor meiner Flucht aus dem Gefängnis. Auch in jener Nacht hatte ich nicht geschlafen. Auch jene Nacht war geprägt
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