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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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muss einen unserer eigenen Männer erstechen, dachte ich.
    »Er will wissen, ob du Russe bist«, murmelte Ahmed Zadeh neben mir. Ich warf ihm einen raschen Blick zu, und er wies auf meine Hüfte. »Die Pistole. Und deine hellen Augen. Er hält dich für einen Russen.«
    Khaderbhai trat zwischen die Männer und legte dem Verrückten von hinten die Hand auf die Schulter. Der fuhr herum und blickte in Khaders
    Gesicht. Er schien den Tränen nahe zu sein. Khader wiederholte Nasirs Worte in beruhigendem Tonfall. Ich verstand nicht alles, aber die Aussage war mir klar. Nein. Er ist Amerikaner. Die Amerikaner helfen uns. Dieser Mann ist hier, um mit uns gegen die Russen zu kämpfen. Er wird uns helfen, die Russen zu töten. Er wird uns helfen. Zusammen werden wir viele Russen töten.
    Als der Mann sich wieder zu mir umwandte, hatte seine Miene sich so dramatisch verändert, dass er nahezu mein Mitleid erregte, obwohl ich einen Moment zuvor noch bereit gewesen war, ihm mein Messer in die Brust zu stoßen. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen und wirkten unnatürlich groß, doch anstatt der Mordlust zeichnete sich nun ein solches Leid und Elend auf seinen Zügen ab, dass ich mich an die vielen zerstörten Steinhäuser erinnert fühlte, die wir am Rand der Straße gesehen hatten. Noch einmal blickte er Khader an, und ein zittriges Lächeln huschte über sein Gesicht wie ein elektrischer Impuls. Dann wandte er sich ab und schritt durch die Menge. Die Männer machten ihm argwöhnisch Platz, und in ihrem Blick mischte sich Mitleid mit Furcht.
    »Es tut mir leid, Lin«, sagte Abdel Khader leise. »Der Name dieses Mannes ist Habib. Habib Abdur Rahman. Er ist Lehrer – nun, er war einmal Lehrer, in einem Dorf jenseits dieser Berge. Er unterrichtete die Kleinen, die jüngsten Kinder. Als die Russen einmarschierten, vor sieben Jahren, war Habib ein glücklicher Mann, der eine junge Frau und zwei starke Söhne hatte. Er schloss sich dem Widerstand an, wie alle jungen Männer aus dieser Gegend. Als er vor zwei Jahren von einem Kampfeinsatz zurückkam, musste er feststellen, dass die Russen sein Dorf angegriffen hatten. Sie hatten Gas eingesetzt, ein Nervengas.«
    »Sie streiten es ab«, warf Ahmed Zadeh ein. »Doch sie probieren in diesem Krieg neue Waffen aus. Viele der Waffen, die hier eingesetzt werden, Landminen, Raketen und alles, sind noch nie zuvor in einem Krieg benutzt worden. Wie das Gas, das sie bei Habibs Dorf eingesetzt haben. Einen solchen Krieg gab es wirklich noch nie.«
    »Habib durchschritt alleine sein Dorf«, fuhr Khader fort. »Alle waren tot. Alle Männer, Frauen und Kinder. Sämtliche Generationen seiner Familie – beide Großelternpaare, seine Eltern, die Eltern seiner Frau, seine Onkel und Tanten, Brüder und Schwestern, seine Frau und seine Kinder. Alle getötet, binnen einer Stunde. Sogar die Tiere, die Ziegen und Schafe und Hühner, waren tot. Und die Insekten und Vögel. Nichts regte sich mehr. Nichts lebte mehr.«
    »Er macht … ein Begraben … alle Männer … alle Frauen … alle Kinder …«, fügte Nasir hinzu.
    »Er hat alle begraben«, sagte Khader und nickte. »Seine Familie und seine Verwandten, die Freunde aus Kindertagen, seine Nachbarn. Er brauchte dafür so lange, alleine, dass es am Ende sehr schlimm war. Als er es geschafft hatte, nahm er sein Gewehr und kehrte zu seiner Mudjahedin-Einheit zurück. Doch dieses Erlebnis hatte ihn schrecklich verändert. Er war jetzt wie ein anderer Mann. Er tat alles, um Russen gefangen zu nehmen oder Afghanen, die auf Seiten der Russen kämpften. Und wenn er einen zu fassen bekam – und er konnte viele gefangen nehmen, denn er war bald sehr gut darin –, folterte er sie zu Tode, indem er sie mit einem angespitzten Stahlstab pfählte, angefertigt aus der Schaufel, mit der er seine Familie begraben hatte. Er hat ihn immer bei sich. Du kannst ihn sehen, auf seinem Marschgepäck. Er fesselt die Gefangenen an den Stab, sodass die Spitze auf ihren Rücken zeigt. In dem Moment, indem ihre Kraft nachlässt und die Spitze sich durch ihren Leib bohrt, bis sie vorne herauskommt, beugt Habib sich über sie, starrt ihnen in die Augen und spuckt in ihren schreienden Mund.«
    Khaled Ansari, Nasir, Ahmed Zadeh und ich standen reglos da und warteten, bis Khader weitersprach.
    »Es gibt keinen Mann, der diese Berge und die Gegend zwischen hier und Kandahar besser kennt als Habib«, schloss Khader und seufzte ergeben. »Er ist der beste Führer von allen. Er hat

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