Shantaram
hatten.
Khaled richtete sich auf und entfernte sich von der Szene. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, als er an mir vorüberging, und folgte ihm. Hinter mir erhob sich ein Wutgeheul, und Jalalaad begann mit dem Kolben seiner Kalaschnikow auf Habibs Leiche einzuschlagen. Ich blickte über die Schulter und sah, wie die wahnsinnigen Augen des Verrückten von den Schlägen des Gewehrkolbens zerstört wurden. Und in einer dieser verdrehten Empfindungen eines mitleidigen Herzens empfand ich Mitgefühl für Habib. Mehr als einmal hätte ich ihn selbst gerne getötet, und ich wusste, dass ich eigentlich froh war über seinen Tod. Doch in diesem Moment tat er mir so leid, dass ich um ihn trauerte, als sei er ein Freund gewesen. Er war Lehrer, dachte ich. Der gewalttätigste und gefährlichste Mann, dem ich je begegnet war, hatte einst kleine Kinder unterrichtet. Ich wurde diesen Gedanken nicht los; in diesem Augenblick war er die einzige Wahrheit, die zählte.
Und als die Männer Jalalaad schließlich wegzerrten, war nichts mehr übrig außer Blut und Schnee und Haaren und Knochensplittern, wo zuvor ein Leben und ein gemarterter Geist gewesen waren.
Khaled kehrte in die Höhle zurück, etwas auf Arabisch murmelnd. Seine Augen leuchteten, als seien sie erfüllt von einer Mission, die ihn von innen heraus erstrahlen ließ, und sein vernarbtes Gesicht wirkte bedrohlich entschlossen.
In der Höhle löste er den Gürtel, an dem er seine Feldflasche trug, und ließ ihn zu Boden fallen. Er hob den Patronengurt von seiner Schulter und ließ auch ihn fallen. Dann durchstöberte er seine Taschen und entleerte sie, bis er nur noch die Kleider am Leib trug. Zu seinen Füßen lagen gefälschte Pässe, Geld, Briefe, seine Brieftasche, seine Waffen, sein Schmuck und sogar die abgegriffenen Fotos seiner längst verstorbenen Familie.
»Was sagt er?«, fragte ich Mahmud verzweifelt. Wochenlang war ich Khaleds Blick ausgewichen und hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Nun packte mich plötzlich eine schier unerträgliche Angst, dass ich ihn verlieren könnte; dass ich ihn vielleicht schon verloren hatte.
»Der Koran«, flüsterte Mahmud mir zu. »Er spricht Suren aus dem Koran.«
Khaled verließ die Höhle und ging weiter bis zum Rande unseres Lagers. Ich lief ihm nach, um ihn aufzuhalten, und stieß ihn mit beiden Händen zurück, was er zunächst zuließ. Doch dann versuchte er an mir vorbeizugehen. Ich schlang die Arme um ihn und zerrte ihn ein Stück des Wegs zurück. Er wehrte sich nicht, sondern starrte geradeaus ins Leere, auf diese irrwitzige Vision, die nur er sehen konnte, während er die hypnotisch poetischen Verse aus dem Koran sang.
»Helft mir doch!«, schrie ich. »Seht ihr nicht, was er tut? Er geht weg! Er will uns verlassen!«
Mahmud, Nasir und Suleiman näherten sich uns, doch statt mich bei meinen Bemühungen zu unterstützen, ergriffen sie meine Arme und zogen sie behutsam, aber unnachgiebig von Khaled fort, der sofort weiterging. Ich entwand mich dem Griff der anderen, lief ihm nach und versuchte wieder, ihn aufzuhalten. Ich schrie ihn an und schlug ihm ins Gesicht, damit er die Gefahr erkannte, in die er sich begeben wollte. Er wehrte sich nicht, und er reagierte auch nicht. Ich spürte, wie mir heiße Tränen übers Gesicht rannen und auf meinen gesprungenen Lippen brannten. Ich spürte das Schluchzen in meiner Brust, wie ein wogender rollender Fluss, der an die glatten gerundeten Felsen klatscht, wieder und immer wieder. Und ich hielt Khaled fest, einen Arm um seinen Nacken, den anderen um die Hüfte geschlungen, die Hände fest in seinem Rücken gefaltet.
Doch Nasir, der auch dünner und schwächer geworden war wie wir alle, war immer noch stärker als ich. Mit stählernen Händen packte er meine Handgelenke und zerrte mich von Khaled fort. Mahmud und Suleiman halfen ihm, mich festzuhalten, während ich mich wehrte und nach Khaled zu greifen versuchte. Und dann sahen wir ihm nach, wie er weiter wanderte und in dem Winter verschwand, der uns auf die eine oder andere Art alle zerstört oder getötet hatte.
»Hast du ihn nicht gesehen?«, fragte Mahmud, als Khaled verschwunden war. »Hast du nicht sein Gesicht gesehen?«
»Doch, doch«, schluchzte ich und stolperte in die Höhle zurück, um mich im finsteren Gelass meines Elends zu verstecken.
Stundenlang lag ich dort, schmutzig, ausgehungert, zornig und todtraurig. Vielleicht wäre ich dort gestorben – es gibt Schmerzen, die einen der Gliedmaßen
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