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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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berauben können –, doch der Geruch von Essen brachte mich wieder zu mir. Die Männer hatten beschlossen, dass wir mit dem Kochen des verrotteten Ziegenfleischs nicht länger warten konnten. Sie fächelten unentwegt den Rauch fort und verbargen die Flammen unter Decken.
    Vor dem Morgengrauen war die Suppe fertig, und jeder nahm eine Schale oder einen Becher davon zu sich. Der faulige Geruch des verdorbenen Fleischs war schlimmer, als unsere leeren Mägen es ertragen konnten. Die ersten Schlucke, die wir würgend zu uns nahmen, erbrachen wir sofort wieder. Doch Hunger verfügt über einen eigenen Willen, der viel älter ist als jener andere Wille, dem wir im Palast unseres Geistes schmeicheln und lobhudeln. Wir waren zu hungrig, um Nahrung zu verweigern, und spätestens beim dritten Versuch behielten wir die abscheuliche, stinkende Brühe bei uns. Der Schmerz, den die heiße Suppe dann in unserem Gedärm verursachte, war so scharf, als hätten wir Angelhaken geschluckt; doch auch das verging. Jeder von uns zwang sich, drei Portionen zu sich zu nehmen und die zähen verdorbenen Fleischbrocken zu kauen.
    In den folgenden zwei Stunden verschwanden wir wechselweise zwischen den Felsen, als die Suppe sich durch unsere Innereien und Gedärme arbeitete, die in unseren ausgehungerten Körpern den Dienst versagt hatten und nun explodierten.
    Zuletzt, als wir uns alle erholt hatten, als alle Gebete gesprochen waren, als jeder von uns bereit war, zogen wir zu dem Gelände im Südosten, das Habib für den Angriff empfohlen hatte. Er hatte uns versichert, dass der steile Berghang unsere einzige Möglichkeit war, in die Freiheit auszubrechen, und da er beabsichtigt hatte, mit uns zu kämpfen, sahen wir keinen Grund, seinen Rat anzuzweifeln.
    Wir waren sechs Mann: Suleiman, Mahmud Melbaaf, Nasir, Jalalaad, ich und Ala-ud-Din, ein scheuer Zwanzigjähriger mit jungenhaftem Grinsen und den blassgrünen Augen eines alten Mannes. Er begegnete meinem Blick und nickte ermutigend. Ich lächelte, und er grinste mich breit an und nickte mehrmals heftig. Ich wandte den Blick ab, schämte mich plötzlich, dass ich während der harten Zeit, die wir gemeinsam durchgemacht hatten, nicht ein einziges Mal versucht hatte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Wir würden gemeinsam sterben, und ich wusste nichts über diesen Jungen. Nichts.
    Der Morgen steckte den Himmel in Brand. Windgepeitschte Wolken trieben über die Ebene, purpurrot von den ersten brennenden Küssen der Morgensonne. Wir schüttelten uns die Hände, umarmten uns, überprüften wieder und wieder unsere Waffen und starrten die steilen Berghänge hinunter.
    Das Ende, wenn es naht, kommt immer zu schnell. Meine Gesichtshaut fühlte sich zu straff an, angespannt von den Muskeln in Nacken und Kinn, die wiederum gezogen wurden von den Schultern, Armen, halb erfrorenen Händen, die das Gewehr umklammerten.
    Suleiman gab den Befehl. Mein Magen stürzte ins Leere, zog sich zusammen, gefror zu einem harten Klumpen, der kalten gefühllosen Erde unter meinen Füßen gleich. Ich stand auf und überquerte das Plateau. Wir begannen den Abstieg. Es war ein prachtvoller Tag, der klarste Tag seit Monaten. Vor Wochen hatte ich gedacht, dass es, wie im Gefängnis, keine Morgendämmerung und keinen Sonnenuntergang gab in den steinernen Bergkäfigen von Afghanistan. Doch der Sonnenaufgang an diesem Morgen war schöner als jeder, den ich bislang erlebt hatte. Als der Abhang flacher wurde, wurden wir schneller, überquerten in raschem Lauf den rosafarbenen Schnee und tauchten in das graugrüne Licht der Ebene.
    Die ersten Explosionen, die wir hörten, waren zu weit entfernt, um mir wirklich Angst zu machen. Okay. Es ist so weit. Das war’s … Ich hörte die Worte in meinem Kopf, als habe ein anderer sie gesprochen; als bereite mich jemand wie ein Trainer auf das Ende vor. Dann, als die Granaten ihre Reichweite fanden, näherten sich die Einschläge.
    Ich schaute zur Seite und sah, dass die anderen schneller rannten als ich. Nur Nasir war noch direkt neben mir. Ich versuchte schneller zu laufen. Meine Beine fühlten sich hölzern und stumpf an; ich sah, wie sie sich bewegten, Schritt für Schritt, aber ich spürte sie nicht. Ich musste meinen ganzen Willen aufbieten, um ihnen den Befehl zu geben, schneller zu laufen. Schließlich schien es mir gelungen zu sein.
    Zwei Granaten schlugen in meiner Nähe ein. Ich rannte weiter, wartete auf den Schmerz und den letzten Streich. Mein Herz schien sich in der

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