Shantaram
Gul, der Steinmetz, dessen Name Arbeiter bedeutete und dessen Hände weißgrau geworden waren von jahrzehntelanger Arbeit am Granit … Daud, der sich wünschte, mit der englischen Version seines Namens angesprochen zu werden, David, und der davon träumte, eines Tages nach New York zu reisen und dort in einem vornehmen Restaurant zu speisen … Zamaanat, dessen Name Vertrauen bedeutete und der hinter einem mutigen Lächeln seine Scham darüber verbarg, dass seine gesamte Familie in Hunger und Not in einem riesigen Flüchtlingslager in Jalozai bei Peshawar leben musste … Hajji Akbar, der ursprünglich zum Arzt der Einheit ernannt worden war, weil er einmal zwei Monate als Patient in einem Krankenhaus zugebracht hatte, und der mit Gebeten und einem kleinen freudigen Derwischtanz reagiert hatte, als ich mich bereit erklärte, die Arztrolle zu übernehmen … Alef, der schelmische paschtunische Händler, der mit brennenden Kleidern und aufgerissenem Rücken im Schnee starb … Juma und Hanif, die beiden wilden Jungen, die von dem wahnsinnigen Habib getötet wurden … Jalalaad, ihr junger Freund, der beim letzten Angriff umkam … Ala-ud-Din, dessen Name zu Aladin verkürzt wird und der alles unversehrt überstand … Suleiman Shahbadi mit den buschigen Brauen und kummervollen Augen, der uns den feindlichen Gewehren entgegenführte und dabei zu Tode kam.
In der Mitte des Bildes scharte sich eine kleinere Gruppe um Abdel Khader Khan: Ahmed Zadeh, der Algerier, der meine Hand umklammerte und mit der anderen nach der gefrorenen Erde tastete, als er starb … Khaled Ansari, der Habib, den Verrückten, ermordete und danach in der Schneewüste verschwand … Mahmud Melbaaf, der wie Ala-ud-Din den letzten Angriff unverletzt überstand … Nasir, der seine eigenen Verletzungen nicht beachtete, um mich zu retten … und ich. Ich stand links hinter Khaderbhai, und mein Gesichtsausdruck war zuversichtlich, entschlossen und selbstsicher. Und die Kamera lügt nicht, so sagt man.
Nasir verdankte ich mein Leben. Die Granate, die so dicht neben uns explodierte, als wir auf die feindlichen Linien zurannten, hatte mein linkes Trommelfell zerstört. Im selben Moment ergoss sich ein Schauer aus Metallsplittern über uns. Ich entging den größeren Teilen, aber acht kleinere Splitter trafen meine Beine unterhalb der Knie – fünf saßen in der einen, drei in der anderen Wade. Zwei Splitter zerfetzten meine dicke Kleidung und sogar den dicken Geldgürtel und die festen Riemen des Verbandskoffers und bohrten sich in meinen Bauch und meine Brust. Ein weiterer erwischte mich über dem linken Auge.
Es waren kleine Splitter, nicht größer als das Gesicht von Abe Lincoln auf einem amerikanischen Penny. Doch sie drangen mit derartiger Wucht in meine Beine ein, dass ich schlagartig zu Boden ging. Erde spritzte mir ins Gesicht, würgte und blendete mich. Immerhin gelang es mir im letzten Moment, den Kopf beiseite zu drehen, um nicht aufs Gesicht zu stürzen. Wobei ich leider auf die linke Seite fiel, und der Aufprall zerriss das Trommelfell noch weiter. In diesem Moment verlor ich das Bewusstsein.
Nasir, der Wunden am Arm und an den Beinen hatte, zerrte mich in eine grabenartige Senke und sank dann auf mich, um mich zu schützen. Als er auf mir lag, die Arme um meinen Hals geschlungen, bohrte sich ein Granatsplitter in seine rechte Schulter. Dieses Metallstück hätte mich getroffen und womöglich getötet, hätte Khaders Getreuer mich nicht mit seiner Liebe davor bewahrt. Als der Beschuss vorüber war, brachte Nasir mich in Sicherheit.
»Das war Sayeed, nicht?«, fragte Mahmud Melbaaf.
»Wie?«
»Sayeed hat das Bild gemacht, nicht?«
»Ja. Ja. Sayeed. Den sie Kishmishi nannten …«
Wir versanken in unseren Erinnerungen. Für Sayeed, den schüchternen jungen paschtunischen Kämpfer, war Khaderbhai der Inbegriff von Heldentum gewesen. Der junge Mann war dem Khan überallhin gefolgt und hatte ihn bewundernd betrachtet, jedoch immer die Augen niedergeschlagen, wenn Khader in seine Richtung blickte. Sayeed hatte als Kind Pocken gehabt, und sein Gesicht war von zahllosen bräunlichen Narben übersät. Die älteren Männer aus unserer Einheit hatten ihn immer liebevoll Kishmishi genannt, was Rosinen bedeutete. Weil Sayeed so schüchtern war, dass er nicht fotografiert werden wollte, hatte er sich damals bereit erklärt, die Aufnahme zu machen.
»Er war bei Khader«, murmelte ich.
»Ja, bis zum Ende. Nasir hat ihn neben Khaders Leiche liegen
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