Shantaram
fand als sein irres Starren.
»Was macht er denn jetzt?«, fragte ich Mahmud, erleichtert, dass der Wahnsinnige verschwunden war.
»Er sucht Khaled, denke ich«, antwortete Mahmud.
»Verflucht, ist das kalt!«, schimpfte ich.
»Ja. Ich friere auch furchtbar, wie du. Ich träume ganzen Tag, dass die Kälte weg ist.«
»Mahmud, du warst doch auch dabei, an diesem Abend in Bombay, als wir mit Khaderbhai die Blinden Sänger gesehen haben, nicht?«
»Ja. Es war unser erstes Treffen, für alle von uns. Ich habe dich da zum ersten Mal gesehen.«
»Es tut mir leid, ich habe dich nicht bemerkt an diesem Abend. Ich wollte dich fragen, wie du Khaderbhai kennen gelernt hast.«
Mahmud lachte. Ihn lachen zu sehen, kam so selten vor, dass ich unwillkürlich lächelte. Mahmud war dünn geworden seit unserem Aufbruch – wir alle waren mager. Seine Gesichtshaut wirkte zu straff gespannt über den hohen Wangenknochen und dem spitzen Kinn, das von einem dichten dunklen Bart bedeckt war. Seine Augen schimmerten im kalten Mondlicht, bronzefarben wie eine Tempelvase.
»Ich stehe in Bombay auf der Straße und mache Passgeschäft mit meinem Freund. Da ist eine Hand auf meiner Schulter. Es ist Abdullah. Er sagt mir, Khader Khan will mich sehen. Ich gehe zu Khader in sein Auto. Wir fahren, reden, und danach ich bin sein Mann.«
»Warum hat er dich ausgesucht? Wie ist er auf dich gekommen, und weshalb hast du eingewilligt?«
Mahmud runzelte die Stirn, als stelle er sich diese Frage selbst zum ersten Mal.
»Ich war gegen Schah Pahlavi«, begann er. »Die Geheimpolizei des Schah, der Savak, haben viele Menschen getötet und ins Gefängnis gesteckt, für Folter. Mein Vater ist im Gefängnis gestorben. Meine Mutter auch. Weil sie gegen den Schah gekämpft haben. Ich war ein kleiner Junge damals. Als ich groß bin, kämpfe ich auch gegen Schah. Zweimal im Gefängnis. Zweimal Prügel und Strom auf dem Körper und zu viel Schmerz. Ich kämpfe für Revolution im Iran. Ayatollah Khomeini macht Revolution im Iran, und er ist neuer Herrscher, seit Schah nach Amerika geflüchtet ist. Aber Savak ist immer noch gleich. Jetzt arbeitet für Khomeini. Ich komme wieder ins Gefängnis. Wieder Schläge und Stromschmerz. Dieselben Männer von Schah – sie arbeiten jetzt für Khomeini. Alle meine Freunde sterben im Gefängnis und im Krieg gegen Irak. Ich fliehe und komme nach Bombay. Ich mache Geschäfte auf Schwarzmarkt mit anderen Leuten aus Iran. Dann macht mich Abdel Khader Khan zu seinem Mann. In meinem Leben kenne ich nur einen großen Mann. Khader. Und jetzt ist er tot …«
Er brach ab und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke eine Träne aus jedem Auge.
Mahmud hatte lange gesprochen, und wir zitterten beide vor Kälte, aber ich wollte ihm noch weitere Fragen stellen, wollte alles erfahren – alles, was die Lücken zwischen Khaderbhais Aussagen und den Geheimnissen füllen konnte, die Khaled mir offenbart hatte. Doch in diesem Augenblick zerriss ein schriller, grauenvoller Schrei die Luft, der so abrupt abbrach, als habe jemand den Laut mit einer Schere abgeschnitten. Wir sahen uns an und griffen instinktiv nach den Waffen.
»Dort!«, schrie Mahmud und rannte mit kleinen vorsichtigen Schritten über die Schneeflächen.
Wir erreichten die Szene gleichzeitig mit den anderen. Nasir und Suleiman drängten sich zwischen den Männern hindurch. Sie erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Khaled Ansari kniete über Habib Abdur Rahman, der auf dem Rücken lag. Der Wahnsinnige, der noch kurz zuvor vom Glück gesprochen hatte, war tot. In seinem Hals steckte ein Messer. Es war hineingestoßen und gedreht worden, wie Habib selbst es bei unseren Pferden und bei Siddiqi gemacht hatte. Doch dieses Messer, das aus dem verschmutzten sehnigen Hals aufragte wie ein Ast aus einem ausgedorrten Flussbett, gehörte nicht Habib. Wir kannten es alle. Wir hatten den markanten gebogenen Horngriff unzählige Male gesehen. Es war Khaleds Messer.
Nasir und Suleiman ergriffen Khaled unter den Armen und zogen ihn behutsam hoch. Er ließ es einen Moment geschehen, doch dann schüttelte er die beiden ab und kniete sich neben die Leiche. Habibs Pattu war verrutscht, und Khaled zog etwas aus der Flakweste hervor. Metallstücke, die Habib an Lederbändern um den Hals trug. Jalalaad stürzte vor und griff danach. Es waren Teile von dem Panzer, den Hanif und Juma und er zerstört hatten; die Metallstücke, die seine Freunde zum Andenken um den Hals getragen
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