Shantaram
es sogar ein faires Tauschgeschäft: seine Zuwendung gegen das Visum. Mit mir würde er so etwas nie versuchen.«
»Hat er Angst vor dir?«, fragte ich schmunzelnd.
»Ja, ein bisschen, glaube ich. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich ihn mag. Ich könnte keinen Mann achten, der nicht so klug ist, wenigstens ein bisschen Angst vor mir zu haben.«
Sie erhob sich, und ich tat es ihr gleich. Unter der Straßenlaterne waren ihre Augen Juwelen des Verlangens, feucht vom Licht. Ihre Lippen, weich und gelöst in einem halben Lächeln, waren mir bestimmt – ein Moment, der nur mein Eigen war –, und der Bettler, mein Herz, begann zu hoffen und zu bitten.
»Wenn du morgen in Prabakers Dorf fährst«, sagte sie, »versuch dich zu entspannen und dich ganz einzulassen auf das, was du erlebst. Lass dich einfach … hineinfallen. In Indien muss man sich gänzlich hingeben, bevor man etwas bekommt.«
»Du hast wohl für alles einen weisen Spruch parat, wie?«, erwiderte ich mit einem leisen Lachen.
»Das ist nicht weise, Lin. Ich finde, Weisheit wird überschätzt. Weisheit ist nichts anderes als Schläue ohne Kraft. Ich würde Schläue jederzeit vorziehen. Mit den meisten weisen Menschen, die ich kenne, habe ich echte Probleme. Aber schlaue lebenskluge Leute – egal, ob Männer oder Frauen – habe ich immer gemocht. Wenn ich dir weise Ratschläge geben würde – was ich nicht tue –, dann würde ich sagen, betrink dich nicht, gib nicht dein ganzes Geld aus und verlieb dich nicht in ein hübsches Dorfmädchen. Das wäre weise. Aber das ist eben der Unterschied zwischen Schläue und Weisheit. Ich bin lieber schlau, und deshalb habe ich dir geraten, dich auf alles einzulassen, was dich im Dorf erwartet, wie es auch aussehen mag. Okay. Ich gehe jetzt. Komm mich mal besuchen, wenn du wieder hier bist. Ich freue mich drauf. Wirklich.«
Sie küsste mich auf die Wange und wandte sich zum Gehen. Ich konnte dem Impuls, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, nicht gehorchen. Ich sah ihr nach. Ihre dunklen Konturen verschmolzen mit der Nacht. Dann trat sie ins warme gelbe Licht vor ihrem Haus, und es kam mir vor, als belebte mein Blick ihren Schatten, als habe nur mein Herz allein sie aus der Dunkelheit zum Leben erweckt, sie gemalt mit dem Licht und den Farben der Liebe. Sie wandte sich noch einmal um, um zu sehen, ob ich ihr nachblickte, dann schloss sie leise die Tür und verriegelte sie.
Diese letzte Stunde mit ihr war ein Borsalino-Test, dessen war ich mir sicher, und auf dem Rückweg zu meinem Hotel fragte ich mich immer wieder, ob ich ihn wohl bestanden hatte. Auch heute noch, nach all den Jahren, denke ich darüber nach. Ich weiß es immer noch nicht.
F ÜNFTES K APITEL
I n der Victoria Terminus Station waren die breiten Bahnsteige für Fernzüge vom metallenen Himmel eines sanft geschwungenen Dachs überwölbt und verloren sich in einem fernen Fluchtpunkt am Horizont. Die Cherubim dieses architektonischen Himmels waren die Tauben – Luftwesen in leichtem Flug durch helle Höhen. Sie flatterten so weit oben unter den Metallstreben, dass sie nur noch vage auszumachen waren. Der große Bahnhof, den die Pendler nur V. T. nannten, war zu recht für die Pracht seiner kunstvoll gestalteten Fassaden, seiner Türmchen und Außenverzierungen berühmt. Doch am erhabensten war seine Schönheit in dem kathedralengleichen Innenraum, fand ich. Dort, wo sich die Beschränkungen des Funktionalen mit dem Streben der Kunst vereinten.
Eine geschlagene Stunde lang saß ich inmitten unseres Gepäckberges auf dem Bahnsteig für die Fernzüge nach Norden. Es war sechs Uhr abends, und der Bahnhof quoll über vor Menschen, Koffern, Bündeln und einer ansehnlichen Auswahl lebender oder kürzlich aus dem Leben geschiedener Nutztiere.
Prabaker rannte mitten in das Gewühl zwischen zwei stehenden Zügen hinein. Es war jetzt bereits das fünfte Mal, dass er einfach so davonlief. Ein paar Minuten später sah ich ihn dann zum fünften Mal zurückkommen.
»Herrgott, Prabaker, setz dich doch mal hin.«
»Kann ich nicht sitzen, Lin.«
»Dann lass uns einsteigen.«
»Kann ich jetzt unmöglich einsteigen, Lin. Ist es jetzt nicht Zeit für Einsteigen.«
»Und wann ist diese Zeit?«
»Glaube ich … ein bisschen fast, ziemlich bald und ist es nicht mehr lang. Da, hörst du! Hörst du!«
Eine Durchsage ertönte. Möglicherweise war sie sogar auf Englisch – aus den unzähligen uralten, kegelförmigen Lautsprechern klangen die
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