Shantaram
Laute so verzerrt wie wütendes Gegröle von Betrunkenen. Während Prabaker zuhörte, trat ein Ausdruck der Bestürzung auf sein Gesicht.
»Jetzt! Jetzt, Lin! Los! Müssen wir machen schnell! Musst du machen schnell!«
»Augenblick. Seit einer Stunde lässt du mich hier sitzen wie einen Messingbuddha. Und jetzt ist es plötzlich ganz eilig, und ich soll schnell machen?«
»Ja, Baba. Haben wir jetzt keine Zeit zum Buddha-Machen – Entschuldigung dem Heiligen. Musst du jetzt sein schrecklich furchtbar eilig. Kommt er doch! Und musst du dann bereit sein. Kommt er, Lin, kommt er!«
»Wer kommt?«
Prabaker drehte sich um und spähte über den Bahnsteig. Die Ansage, was immer auch ihr Inhalt gewesen sein mochte, hatte die Menschenmassen elektrisiert; ein Ansturm auf die beiden stehenden Züge setzte ein, und die Leute warfen sich mitsamt ihrem Gepäck durch Türen und Fenster in die Waggons. Ein Mann löste sich aus der brodelnden Menge und kam auf uns zu. Er war ein Riese, annähernd zwei Meter groß und einer der wuchtigsten Männer, die ich je gesehen hatte. Sein Körper war muskelbepackt, und aus seinem Gesicht spross ein langer, dichter Bart, der bis auf seine kräftige Brust hinunterreichte. Er trug die Uniform der Bombayer Gepäckträger, Mütze, Hemd und Shorts aus grobem rotem und khakifarbenem Leinen.
»Er!«, sagte Prabaker und deutete mit einer Mischung aus Bewunderung und Furcht auf den Hünen. »Gehst du mit diese Mann, Lin.«
Der Gepäckträger, erfahren im Umgang mit Ausländern, übernahm die Regie und streckte beide Arme nach mir aus. Da ich dachte, er wolle mir die Hand schütteln, streckte ich ihm meine Rechte entgegen. Er stieß sie mit einer Miene beiseite, die keinen Zweifel daran ließ, wie abscheulich er diese Geste fand. Dann packte er mich unter den Armen und setzte mich auf der anderen Seite des Gepäckberges ab, wo ich nicht im Weg war.
Es ist eine irritierende, wenn auch durchaus amüsante Erfahrung, mit neunzig Kilo Eigengewicht von einem anderen Mann mühelos hochgehoben zu werden. Ich beschloss augenblicklich, mich dem Gepäckträger zu fügen.
Während sich der Mann meinen schweren Rucksack auf den Kopf lud und die restlichen Gepäckstücke aufsammelte, schob mich Prabaker hinter ihn und griff nach dem roten Leinenhemd des Hünen.
»Hier, Lin, halt du dies Hemd ganz prima fest«, wies er mich an. »Halt du dies Hemd prima fest und lass du nie los. Gib du mir dein hoches und heiliges Versprechen. Wirst du dies Hemd niemals nicht lassen los.«
Seine Miene war so außergewöhnlich feierlich und ernst, dass ich zustimmend nickte und nach dem Hemd des Gepäckträgers griff.
»Nein, sag du es auch, Lin! Sag du die Worte – sag du: werde ich dies Hemd niemals nicht loslassen. Schnell!«
»Herrgott! Na, meinetwegen – ich werde dieses Hemd niemals loslassen. Zufrieden?«
»Wiedersehen, Lin!«, rief Prabaker und rannte davon, mitten hinein in das hektische Treiben.
»Was? Was? Wo gehst du hin? Prabu? Prabu!«
»Okay. Wir gehen jetzt!«, dröhnte der Gepäckträger mit sonorer Stimme.
Mit mir im Schlepptau marschierte er direkt in das Getümmel hinein und bahnte sich einen Weg, indem er in alle Richtungen auskeilte. Vor ihm stoben die Leute auseinander. Wer ihm nicht auswich, wurde unsanft beiseitegestoßen. Drohungen, Beleidigungen und Flüche brüllend, stapfte er durch das Gedränge und den höllischen Lärm. Die Leute brüllten und schrien, als sei eine Katastrophe passiert. Dazu plärrten quäkende, vollkommen unverständliche Ansagen aus den Lautsprechern über uns, vermischt mit Sirenen, Klingeln und Pfiffen.
Wir erreichten einen Waggon, der so brechend voll war wie alle anderen und dessen Zugang von einer Mauer aus Körpern verstellt war. Diese Barriere aus Beinen, Rücken, Köpfen schien unüberwindbar. Staunend und peinlich berührt klammerte ich mich an dem Gepäckträger fest, während dieser uns mit seinen zuverlässigen Knien den Weg in den Waggon freikeilte.
In der Mitte des Abteils endete sein Vormarsch plötzlich. Ich nahm an, dass die Menschenmassen an dieser Stelle nun selbst für dieses Ungetüm von Mann zu dicht waren, um durchzukommen. Als er sich wieder zu bewegen begann, packte ich sein Hemd noch fester, wild entschlossen, meinen Griff nicht zu lockern. In dem ohrenbetäubenden Radau der zusammengepferchten Menschen machte ich irgendwann ein Wort aus, das wie ein Mantra unablässig wiederholt wurde: Sarr … Sarr … Sarr … Sarr … Sarr
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