Shantaram
…
Schließlich begriff ich, dass es sich um die Stimme meines Gepäckträgers handelte, die jetzt ziemlich gequält klang. Das Wort, das er so beharrlich wiederholte, hatte ich nicht erkannt, weil ich es nicht gewohnt war, so angesprochen zu werden: Sir.
»Sir! Sir! Sir! Sir!«, rief er.
Ich ließ sein Hemd los, schaute mich um und sah Prabaker, der über die gesamte Länge einer Sitzbank ausgestreckt war. Er hatte sich vor uns zu dem Waggon durchgekämpft, um einen Platz zu reservieren, und sicherte diesen jetzt mit ganzem Körpereinsatz. Seine Füße waren um die Armlehne am Gang geschlungen. Seine Hände umklammerten die Lehne am Fenster. Ein halbes Dutzend Männer hatten sich vor die Sitzbank gedrängt, und jeder von ihnen versuchte ebenso beharrlich wie brutal, ihn von der Bank zu vertreiben. Sie zogen ihn an den Haaren, boxten und traten ihn und schlugen ihm sogar ins Gesicht. Er war diesen Attacken hilflos ausgeliefert, doch als unsere Blicke sich trafen, erstrahlte ein triumphierendes Lächeln in seinem schmerzverzerrten Gesicht.
Erbost packte ich die Männer am Hemdkragen und schleuderte sie mit der Kraft des gerechten Zorns zur Seite. Prabaker schwang die Füße auf den Boden, und ich setzte mich neben ihn. Sofort begann ein Handgemenge um die verbleibende Sitzfläche. Der Gepäckträger stellte uns das Gepäck vor die Füße. Sein Gesicht, sein Haar und sein Hemd waren schweißnass. Er nickte Prabaker zu, um ihm seine Anerkennung auszudrücken. Die der Verachtung, die er für mich empfand, in nichts nachstand, das machte sein böser Blick unmissverständlich klar. Dann drängte er sich durch die Menge zurück zur Tür, wobei er unablässig Beleidigungen ausstieß.
»Wie viel hast du dem Kerl bezahlt?«
»Vierzig Rupien, Lin.«
Vierzig Rupien. Für zwei amerikanische Dollar hatte sich dieser Mann mit unserem gesamten Gepäck bis in den Waggon vorgekämpft.
»Vierzig Rupien!«
»Ja, Lin«, bestätigte Prabaker seufzend. »Ist es das schlimm teuer. Aber sind sie schlimm teuer, so prima gute Knie. Hat er berühmte Knie, dieser Bursche. Wollen sie jede Menge Fremdenführer diese seine Knie auch. Aber hab ich überredet ihn, uns zu helfen, weil hab ich ihm gesagt – weiß ich nicht richtig, wie man das sagt auf Englisch –, hab ich ihn gesagt, dass du hast nicht völlig richtig dein Kopf.«
»Geistig behindert. Du hast ihm gesagt, ich wäre geistig behindert?«
»Nein, nein«, sagte er mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Glaube ich, ist es das gute Wort: ›dumm‹.«
»Moment mal, schön langsam – du hast ihm gesagt, ich wäre dumm, und deswegen hat er sich bereit erklärt, uns zu helfen?«
»Ja.« Er grinste. »Aber nicht nur bisschen dumm. Hab ich ihn gesagt, dass du bist sehr, sehr, sehr, sehr, sehr –«
»Schon gut. Hab’s kapiert.«
»Preis war also zwanzig Rupien für jede Knie. Und jetzt haben wir dieser sehr guter Platz.«
»Und du bist so weit okay?« Ich war ungehalten, weil er sich meinetwegen hatte verhauen lassen.
»Ja, Baba. Werde ich haben paar blaue Flecken an all mein Körper, aber ist es nichts gebrochen.«
»Was hast du dir bloß dabei gedacht? Ich habe dir doch Geld für die Fahrkarten gegeben. Wir hätten in der ersten oder zweiten Klasse sitzen können wie zivilisierte Menschen. Was sollen wir denn hier?«
Er sah mich an, die großen zartbraunen Augen voller Vorwurf und Enttäuschung. Dann zog er ein kleines Bündel Geldscheine aus der Tasche und reichte es mir.
»Ist es dies das Wechselgeld von die Fahrkarten. Erste-Klasse-Fahrkarten kann sich kaufen jeder Mann, Lin. Wenn du willst kaufen die Fahrkarten für erste Klasse, kannst du das tun allein selbst. Brauchst du kein Bombay-Führer für zu kaufen Karte für die bequeme, leere Waggons. Aber brauchst du sehr prima ausgezeichneter Bombay-Führer, so wie mein gutes Selbst, Prabaker Kishan Kharre, damit du kommst in der
V.T Station in diese Waggon rein und damit du kriegst ein prima guter Platz. Klar? Ist das meine Aufgabe.«
»Sicher, da hast du recht«, lenkte ich ein, obwohl ich immer noch wütend auf ihn war, weil mein schlechtes Gewissen sich nicht beruhigt hatte. »Aber bitte lass dich ab jetzt nicht mehr verprügeln auf dieser Reise, nur damit ich einen Sitzplatz bekomme, okay?«
Er dachte einen Moment lang mit konzentrierter Miene nach, dann hellte sich sein Gesicht auf, und sein vertrautes Lächeln erstrahlte in dem schwach beleuchteten Waggon.
»Wenn absolut es sein muss ein Verprügeln«,
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