Shantaram
handelte er freundlich, aber bestimmt die Bedingungen seiner Anstellung aus, »werde ich dann schreien noch viel lauter, und kannst du sie gleich retten diese meine blaue Flecken. Sind wir abgemacht?«
»Sind wir«, seufzte ich, und im selben Augenblick setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung und rollte schwerfällig aus dem Bahnhof hinaus.
Kaum hatten sich die Räder in Bewegung gesetzt, hörte das allgemeine Hauen und Stechen auf, und die Leute behandelten sich während der gesamten Reise mit erlesener Höflichkeit.
Ein Mann mir gegenüber bewegte die Beine und streifte dabei versehentlich meinen Fuß. Es war eine leichte, kaum wahrnehmbare Berührung, doch der Mann streckte sofort die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen erst mein Knie und dann seine Brust – die indische Geste der Entschuldigung, wenn man jemandem unbeabsichtigt zu nahe getreten ist. Die übrigen Passagiere im Waggon und im Gang verhielten sich ebenso respektvoll und umsichtig.
Damals, auf meiner ersten Reise in das ländliche Indien, erboste mich die plötzliche Höflichkeit nach dem wilden Gerangel beim Einsteigen. Es kam mir heuchlerisch vor, dass man sich wegen einer kleinen, unbeabsichtigten Berührung so ehrerbietig und besorgt zeigte, nachdem sich die Leute wenige Minuten zuvor beinahe gegenseitig aus dem Fenster gestoßen hatten.
Heute – viele Jahre und Reisen später – weiß ich, dass dem Handgemenge und der Höflichkeit dasselbe Prinzip zugrunde lag: Beide waren Fragen der Notwendigkeit. Das Ausmaß an Gewalt und Rücksichtslosigkeit, das nötig war, um sich einen Platz im Zug zu sichern, entsprach genau dem Ausmaß an Höflichkeit und Rücksichtnahme, das nötig war, damit die Zugfahrt in drangvoller Enge so angenehm wie möglich verlief. Die niemals direkt ausgesprochene, aber unvermeidliche Frage überall in Indien lautet: Was ist notwendig? Als ich das begriff, wurden mir viele der typischen und gleichzeitig verwirrenden Aspekte des öffentlichen Lebens verständlich: dass die Behörden die wuchernden Slums akzeptierten, dass Kühe sich frei im Verkehr bewegen durften, dass Bettler auf der Straße geduldet wurden. Ich begriff aber auch, wie die komplexe Verknüpfung der bürokratischen Apparate genau funktionierte, was der prachtvolle hemmungslose Eskapismus der Bollywood-Filme zu bedeuten hatte und weshalb Hunderttausende Flüchtlinge aus Tibet, Iran, Afghanistan, Afrika und Bangladesh in einem Land Aufnahme fanden, das schon reichlich eigene Sorgen und Nöte hatte.
Die wahre Heuchelei, ging mir schnell auf, lag im Blick, in der Denkweise und in der Kritik von Menschen aus reichen Ländern, in denen niemand um einen Platz im Zug kämpfen musste. Schon auf jener ersten Zugfahrt verstand ich Didiers Vergleich zwischen Indien und Frankreich. Wie ein Nachhall seiner Äußerungen ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Kampf um die Sitzplätze in diesem Zug weitaus härter und die Höflichkeit danach weitaus spärlicher ausgefallen wäre, wenn eine Milliarde Franzosen, Australier oder Amerikaner sich in derart bedrängter Enge hätten arrangieren müssen.
Tatsächlich verlief die Fahrt trotz der räumlichen Beschränkung und der immer erbarmungsloseren Hitze angenehm. Jeder verfügbare Quadratzentimeter Sitzfläche war belegt, einschließlich der robusten metallenen Gepäckablagen über den Sitzen. Ein freies Stück Fußboden im Gang war explizit als Sitzgelegenheit ausgewiesen, auf der die Stehenden sich abwechselnd niederließen. Jeder Reisende spürte den Druck von mindestens zwei Körpern an seinem eigenen, doch niemand beschwerte sich.
Dass ich meinen Sitzplatz allerdings einem alten Mann mit weißem Haarschopf und Brillengläsern, so dick wie Okulare eines Armeefernglases, abtrat, und das auch noch vier volle Stunden lang, versetzte Prabaker in Rage.
»Hab ich so schlimm mit die nette Menschen um diese dein Platz gekämpft, Lin. Gibst du ihn jetzt einfach so her, wie ausgespuckten Betelsaft, und stellst du dich in der Gang, und auch noch auf deine zwei Beine!«
»Komm schon, Prabu. Das ist ein alter Mann. Ich kann ihn nicht stehen lassen und selbst sitzen.«
»Ist das ganz einfach – schaust du nicht hin zu diese alter Bursche, Lin. Wenn er steht, schaust du nicht hin, wie er steht. Ist es das sein Problem, dass er steht, hat das nichts zu tun mit dieser dein Platz.«
»So bin ich nun mal«, beharrte ich und lachte verlegen in die Runde interessierter Mitreisender, die unsere Unterhaltung
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