Shantaram
hungrig, doch Prabaker scheuchte mich weiter zum Busbahnhof, einem großen, holprigen Gelände, auf dem Dutzende von Fernbussen standen, die hier Zwischenstation machten. Wir zogen mit unserem unhandlichen Gepäck eine halbe Stunde von Bus zu Bus, bis wir endlich den richtigen fanden. Ich konnte die in Hindi oder Marathi geschriebenen Schilder vorne und seitlich an den Bussen nicht lesen. Prabaker konnte es zwar, fand es jedoch unerlässlich, jeden Busfahrer nach seinem Ziel zu fragen.
»Steht denn vorne auf den Bussen nicht, wo sie hinfahren?«, fragte ich, gereizt wegen der Verzögerung.
»Doch, Lin, ist das so. Schaust du, auf dem steht Aurangabad, auf dem steht Ajanta, auf dem steht Chalisgao, auf dem steht –«
»Ja, ja, schon gut. Und warum müssen wir dann jeden Fahrer fragen, wo er hinfährt?«
»Oh!«, rief er, aufrichtig erstaunt über meine Frage. »Ist doch nicht jedes Schild das prima richtiges Schild.«
»Was soll denn das heißen?«
Er blieb stehen, stellte seinen Teil des Gepäcks ab und schenkte mir ein nachsichtiges, geduldiges Lächeln.
»Weißt du, Lin, fahren manche von diese Burschen zu die Orte, wo niemand will hin. Kleiner Orte mit wenig Leute. Also, was machen sie, die Fahrer? Schreiben sie ein gut prima Schild mit besserer Ort als Ziel.«
»Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass sie ein Schild an ihrem Bus anbringen, das einen größeren Ort als Ziel nennt, weil da mehr Leute hin wollen – dass sie aber anderswohin fahren? Irgendwohin, wo niemand hin will?«
»So ist es, Lin!«, bestätigte er strahlend.
»Warum?«
»Na, denkst du, Lin! Denkt er, dass er kann überreden alle die Leute, die kommen in sein Bus zu fahren an prima Ort. Denkt er, der Fahrer, kann er sie überreden, dass sie fahren zum anderer Ort. Zum nicht prima Ort. Ist das geschäftlich, Lin. Geht es um Geschäft.«
»Das ist doch vollkommen verrückt«, sagte ich entnervt.
»Musst du haben bisschen Mitleid mit diese Burschen, Lin. Wenn sie haben nicht das prima richtiges Schild am Bus, dann redet niemand mit ihnen, der ganzer Tag nicht, und sind sie sehr einsam.«
»Ach so, verstehe«, spottete ich. »Und wir wollen natürlich nicht, dass sie einsam sind!«
»Weiß ich, Lin«, sagte Prabaker lächelnd, »hast du ein sehr prima gut Herz.«
Als wir endlich in einen Bus einstiegen, schien es einer derjenigen zu sein, die einen beliebten Zielort angaben. Bevor die Passagiere einsteigen durften, befragten der Fahrer und sein Helfer jeden Mann und jede Frau, wo genau sie auszusteigen gedächten. Diejenigen, die am weitesten reisten, wurden angewiesen, sich auf die hinteren Bänke zu setzen. Ehe wir uns versahen, war der Gang bis auf Schulterhöhe mit Gepäck, Kindern und Nutztieren verstopft, und auf jeden Zweiersitz hatten sich drei Fahrgäste gequetscht.
Weil ich einen Platz am Gang hatte, musste ich mich am Weiterreichen diverser Dinge über die Köpfe der Stehenden beteiligen – vom Sack bis zum Säugling. Der junge Bauer, der mir den ersten Gegenstand reichen wollte, zögerte jedoch zunächst und starrte in meine grauen Augen. Ich wiegte den Kopf und lächelte. Daraufhin grinste er breit und ließ das Bündel los. Als der Bus schließlich aus dem Busbahnhof fuhr, lächelten mir von allen Seiten Männer zu und wiegten die Köpfe, was ich meinerseits nach Kräften erwiderte.
Auf einem Schild hinter dem Fahrer stand in großen roten Lettern auf Marathi und auf Englisch, dass der Bus für eine Höchstzahl von achtundvierzig Passagieren zugelassen sei. Es schien sich jedoch niemand daran zu stören, dass wir vermutlich eher siebzig Passagiere waren und überdies zwei bis drei Tonnen Fracht geladen hatten. Der alte Bedford schwankte auf seiner ausgeleierten Federung wie ein Schlepper bei stürmischer See. Dach, Seitenwände und Boden quietschten, ächzten und knarrten unablässig, und die Bremsen kreischten bei jedem Einsatz beängstigend. Trotzdem gelang es dem Fahrer, den Bus auf achtzig, neunzig Stundenkilometer hochzuquälen, kaum dass wir das Ortsschild hinter uns gelassen hatten. Angesichts der engen Straße, die auf der einen Seite von einem Steilhang und auf der anderen von einer nicht abreißenden Kolonne von Menschen und Tieren gesäumt wurde, und angesichts der gewaltigen Masse dieser schwankenden Arche von Bus und der Schwindel erregenden Angriffslust, mit der unser Busfahrer jede einzelne Kurve nahm, verspürte ich keinerlei Bedürfnis, während der Fahrt zu schlafen oder mich zu
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