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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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verfolgten.
    »Hab ich an mein ganzer Körper böse Gekratzer und blaue Flecken, Lin«, jammerte Prabaker dramatisch und zog Hemd und Unterhemd hoch, um allen einen üblen Kratzer samt Bluterguss vorzuführen. »So viele böse Gekratzer und so schlimme blaue Flecken hab ich bekommen, nur damit er kann tun seine linke Pobacke auf dieser dein Sitz, dieser alter Kerl. Und für rechte Pobacke von ihn ich hab noch mehr Gekratzer und blaue Flecken – die andere Seite von mein gutes Selbst. Damit er kann machen seine beide Pobacke auf dem Sitz dieser alter Mann, bin ich voll am ganze Körper mit blaue Flecken und Gekratzer. Ist das sehr eine Schande, Lin. Sage ich mehr nicht. Nur: Ist das sehr eine Schande.«
    Er hatte zwischen Englisch und Hindi hin und her gewechselt, bis alle den Inhalt seiner Klage kannten. Die anderen Mitreisenden betrachteten mich mit gerunzelter Stirn oder missbilligendem Kopfschütteln. Der feindseligste und vorwurfsvollste Blick jedoch kam von dem alten Mann, dem ich meinen Platz überlassen hatte. Er starrte mich während der gesamten vier Stunden bitterböse an. Als er schließlich aufstand, um auszusteigen, murmelte er einen so vulgären Fluch, dass andere Mitreisende in lautes Gelächter ausbrachen und einige mir mitfühlend auf Schultern oder Rücken klopften.
    Durch die schlaftrunkene Nacht ratterte der Zug, in die rosenfarbene Dämmerung hinein. Haut an Haut mit diesen fremden Menschen aus Dörfern und Kleinstädten im Landesinneren, lauschte ich den Gesprächen und beobachtete. Und während dieser vierzehn beengten und größtenteils schweigsamen Stunden in der überfüllten Holzklasse lernte ich durch die bloße Anschauung mehr, als ich während einer einmonatigen Reise in der ersten Klasse hätte lernen können.
    Am meisten freute ich mich darüber, dass ich während dieser Fahrt die Bedeutung des berühmten indischen Kopfwiegens entschlüsseln konnte. In den Wochen, die ich mit Prabaker in Bombay verbracht hatte, war mir klar geworden, dass diese wohl typischste der indischen Gebärden – die mal wiegende, mal wackelnde Kopfbewegung nach rechts und links – in etwa unserem Nicken entsprach und Ja bedeutete. Im Laufe der Zeit sollte ich auch die subtileren Nuancen des Kopfwiegens wie Ich bin ganz deiner Meinung oder Ja, gerne unterscheiden lernen. Während dieser Zugfahrt kam ich jedoch zu der Erkenntnis, dass diese Geste des Kopfwiegens einfach alles bedeuten konnte, wenn sie zum Grüßen eingesetzt wurde.
    Die Meisten, die den Waggon betraten, grüßten die Sitzenden oder Stehenden mit einem leichten Wiegen des Kopfes. Die Geste wurde immer von mindestens einem, manchmal auch von mehreren Passagieren erwidert. Ich erlebte das an jedem einzelnen Bahnhof – wohl wissend, dass die neu Zugestiegenen nicht Ja oder Ich stimme dir zu meinen konnten, da im Vorfeld nichts gesagt worden war und bis auf diese Geste auch kein weiterer Austausch stattfand. Allmählich wurde mir klar, dass dieses Kopfwiegen ein freundschaftliches, entwaffnendes Zeichen für die anderen war, das besagte: Ich bin ein friedlicher Mensch. Ich will niemandem etwas Böses.
    Fasziniert von meiner Erkenntnis und der Schönheit dieser Geste beschloss ich, sie selbst zum Einsatz zu bringen. Als der Zug an einem kleinen ländlichen Bahnhof hielt, gesellte sich ein einzelner Mann den Passagieren in unserem Waggon hinzu. Als unsere Blicke sich trafen, wiegte ich sachte den Kopf und lächelte dabei. Das Ergebnis war verblüffend. Der Mann reagierte mit einem Strahlen, das beinahe Prabakers breitem, ansteckendem Lächeln glich, und wiegte dann selbst den Kopf so heftig, dass ich fast erschrak. Als wir uns dem Zielbahnhof näherten, hatte ich jedoch schon genügend Übung, um den Kopf ebenso gelassen zu wiegen wie die anderen. Das Kopfwiegen war die erste indische Geste, die mein Körper erlernte, und damit begann eine Verwandlung, die mein Leben bestimmt hat in all den langen Jahren seit jener Reise der bevölkerten Herzen.
    In Jalgaon, einer Stadt, in deren breiten Straßen geschäftiges Treiben herrschte, stiegen wir aus. Es war neun Uhr morgens, und um uns her rumpelte, rasselte und klapperte es. Rohstoffe wie Eisen, Glas, Holz, Textilien und Plastik wurden vom Zug abgeladen, als wir den Bahnhof verließen, und Waren zum Weitertransport für die großen Städte – alles von Keramik über Kleidung bis zu handgewebten Tatamimatten – trafen gerade ein.
    Der Duft frisch zubereiteter, kräftig gewürzter Speisen machte mich

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