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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Augenbrauen und die Wimpern abbrannten, war mein erster Impuls wegzuspringen. Sie schrie, schlug um sich, stolperte und fiel auf den Rücken. Ich riss mir das Hemd vom Leib, hielt es mir schützend vor Gesicht und Hände und warf mich auf sie, um das Feuer zu ersticken. Dann kamen andere herbeigerannt und kümmerten sich um die Frau. Ich lief weiter, direkt auf das Feuer zu. Als ich die Frau zurückließ, lebte sie noch, aber eine Stimme in meinem Kopf flüsterte: Sie kommt nicht durch. Sie schafft es nicht. Sie ist tot.
    Das Zentrum des Brandes war grauenerregend. Die Flammen waren mittlerweile beinahe so hoch wie die höchsten Hütten und rückten in einem Halbkreis mit einem Durchmesser von fünfzig Hütten und mehr immer näher, vorwärtsgetrieben von den unberechenbaren Böen. Der Wind jagte den Feuerbogen mit jeder Böe vorwärts, mal hierhin, mal dorthin. Im einen Moment loderten die Flammen auf der einen Seite höher, im nächsten züngelten sie von der anderen direkt auf uns zu, und hinter ihnen lag ein Hexenkessel aus brennenden Hütten, giftigem Rauch und ohrenbetäubenden Explosionen. Es war ein Inferno.
    Direkt vor der Feuerwand, in der Mitte des Flammenhalbkreises, stand ein Mann, der die Feuerlöscher befehligte wie ein General seine Soldaten in der Schlacht. Er war groß und mager, hatte silbergraues Haar und einen kurzen, silbergrauen Spitzbart. Bekleidet war er mit einem weißen Hemd, einer weißen Hose und Sandalen. Er trug ein grünes Tuch um den Hals und einen kurzen Stock mit einer Messingspitze in der Hand. Qasim Ali Hussein, das Oberhaupt des Slums, den ich unter diesen Umständen zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
    Qasim Ali verfolgte eine Doppelstrategie: Während mehrere Trupps die Flammen niederschlugen und ihre Ausbreitung so zu verlangsamen versuchten, rissen andere die Hütten nieder, auf die das Feuer zukam. Es war eine Art gestaffelter Rückzug, der dem Feuer zwar ständig neuen Boden überließ, es aber zugleich an den Stellen aktiv löschte, wo es schwächer zu werden schien. Qasim wandte den Kopf langsam hin und her, ließ den Blick über die Feuerfront schweifen, deutete mit seinem messingbeschlagenen Stock hierhin und dorthin und rief Befehle.
    Als er seinen Blick in meine Richtung wandte, blitzte Überraschung in seinen bronzeglänzenden Augen auf. Sein prüfender Blick blieb an meinem verkohlten Hemd haften, das ich in der Hand hielt. Wortlos hob er den Stock und deutete auf die Flammen. Es war mir eine Erleichterung und eine Ehre, ihm zu gehorchen. Ich trabte los und schloss mich einem der Trupps an, die unermüdlich auf die Flammen einschlugen. Und ich war froh, als ich Johnny Cigar in meinem Trupp entdeckte.
    »Okay?«, rief er. Es war eine Ermunterung und eine Frage gleichzeitig.
    »Okay!«, rief ich zurück. »Wir brauchen mehr Wasser!«
    »Es gibt kein Wasser mehr«, schrie er krächzend. Dicker Qualm umwirbelte uns von allen Seiten. »Der Tank ist leer. Er wird erst morgen wieder aufgefüllt. Das Löschwasser hier ist unsere Tagesration.«
    Später erfuhr ich, dass jedem Haushalt, meinem eingeschlossen, eine Ration von zwei oder drei Eimern Wasser pro Tag zugeteilt wurde, zum Kochen, Trinken und Waschen. Jeder der vielen Eimer, der ins Feuer gekippt wurde, bedeutete, dass eine weitere Hausgemeinschaft die Nacht über Durst leiden musste und erst nach der morgendlichen Wasserlieferung der Stadt wieder zu trinken hatte.
    »Ich hasse diese beschissenen Feuer!«, fluchte Johnny und schlug zur Bekräftigung mit einem feuchten Sack auf die Flammen ein. »Kommt her, ihr Arschlöcher ! Ihr wollt mich umbringen ? Na los, kommt doch her. Wir machen euch fertig ! Hört ihr, wir machen euch fertig !«
    Eine orangefarbene Flammenzunge schlug uns entgegen und traf den Mann neben mir. Er schrie auf, hielt die Hände vor sein verbranntes Gesicht und stürzte nach hinten. Qasim Ali schickte einen Rettungstrupp zu ihm, der ihm fort half. Ich griff nach dem Sack, den der Mann hatte fallen lassen, stellte mich zu Johnny, schützte mit den Armen mein Gesicht und drosch auf die Flammen ein.
    Immer wieder blickten wir über die Schulter zu Qasim Ali Hussein, um neue Anweisungen zu bekommen. Es bestand wenig Aussicht, dass wir das Feuer mit unseren nassen Lumpen löschen konnten. Wir konnten lediglich versuchen, den Abrisstrupps Zeit zu verschaffen, damit sie weitere Hütten aus dem Weg räumen konnten. Es war erschütternd: Um den Slum zu retten, zerstörten die Leute ihre eigenen Häuser. Und

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