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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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durchdrungen, wie ich sie mir den ganzen Tag ausgemalt hatte. »Ich werde jetzt meine Sachen aus dem India Guest House holen und in den Slum ziehen. Im Leopold’s oder sonst wo werde ich mich eine Weile nicht mehr blicken lassen. Ich will … na ja … erst wieder festen Boden unter die Füße kriegen … oder … was weiß ich … wieder auf eigenen Beinen stehen … also, ich will … was habe ich gerade gesagt?«
    »Irgendwas mit Beinen und Füßen.«
    »Ach ja.« Ich lachte. »Na ja, irgendwo muss man ja anfangen.«
    »Dann ist das hier also eine Art Abschied?«
    »Nicht so richtig«, murmelte ich. »Na ja, oder doch. Wohl schon.«
    »Dabei bist du gerade erst aus dem Dorf zurückgekommen.«
    »Stimmt.« Ich lachte wieder. »Aus dem Dorf in den Slum. Ein ziemlicher Sprung.«
    »Pass bloß auf, dass du auf die Füße …«
    »… fällst. Schon klar. Hab’s kapiert.«
    »Hör mal, wenn es um Geld geht – ich könnte dir …«
    »Nein«, sagte ich schnell. »Nein. Ich will es so und nicht anders. Und es geht hier nicht nur um Geld. Ich …«
    Etwa drei Sekunden lang war ich versucht, ihr von meinem Problem mit dem Visum zu erzählen. Ihre Freundin Lettie kannte jemanden beim Ausländeramt. Sie hatte Maurizio geholfen, das wusste ich, und es wäre durchaus möglich, dass sie auch mir helfen könnte. Doch dann besann ich mich und verbarg die Wahrheit hinter einem Lächeln. Wenn ich Karla von dem Visum erzählte, würde das andere Fragen nach sich ziehen, die ich nicht beantworten konnte. Ich war verliebt in sie, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihr trauen konnte. Zum Leben auf der Flucht gehört, dass man Menschen schneller liebt als man ihnen vertraut. Wenn man in Sicherheit lebt, verhält es sich genau andersherum.
    »Ich … ich glaube, das wird ein ziemliches Abenteuer. Irgendwie … freue ich mich sogar darauf.«
    »Gut.« Sie nickte langsam und zustimmend. »Gut. Aber du weißt ja, wo ich wohne. Komm doch mal vorbei, wenn du magst.«
    »Gern«, sagte ich. Wir lächelten beide. Und wir wussten beide, dass ich sie nicht besuchen würde. »Klar. Und du weißt, wo du mich findest – bei Prabaker. Für dich gilt das Gleiche.«
    Sie nahm meine Hand, beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. Dann wandte sie sich zum Gehen, aber ich hielt ihre Hand fest.
    »Hast du keinen guten Rat für mich?«, fragte ich, um ihr noch ein Lachen zu entlocken.
    »Nein«, sagte sie ausdruckslos. »Einen Rat würde ich dir nur geben, wenn es mir egal wäre, was mit dir passiert.«
    Das war immerhin etwas. Nicht viel, aber ich konnte mich daran festhalten und meine Liebe und Hoffnung damit nähren. Ich sah Karla nach, als sie in die Helligkeit und den Trubel des Leopold’s trat, und wusste, dass sich eine Tür zu ihrer Welt geschlossen hatte, für die nächste Zeit zumindest. Solange ich im Slum lebte, würde ich aus diesem kleinen Reich des Lichts verbannt sein. Mein Leben im Slum würde von mir Besitz ergreifen und mich so nachhaltig unsichtbar machen, als hätte mich der wahnsinnige Schwertkämpfer mit seiner Klinge tatsächlich niedergestreckt.
    Ich stieg wieder ins Taxi, schlug die Tür zu und sah Prabaker an, dessen breites, strahlendes Lächeln nun alles war, was mir noch blieb.
    »Thik hain. Challo!«, sagte ich. Okay. Los.
    Vierzig Minuten später hielten wir vor dem Slum an der Cuffe Parade, neben dem World Trade Center. Der Kontrast zwischen den beiden fast gleich großen, angrenzenden Grundstücken hätte nicht extremer sein können. Das World Trade Center rechter Hand war ein riesiges, modernes, klimatisiertes Gebäude. Über drei der fünfunddreißig Stockwerke reihte sich ein Geschäft an das andere, wurden Schmuck, Seide, Teppiche und kostbares Kunsthandwerk zur Schau gestellt. Zu unserer Linken lag der Slum, fünfzig Hektar schlimmster Armut mit siebentausend winzigen Hütten, in denen fünfundzwanzigtausend der ärmsten Bewohner Bombays lebten. Rechts blinkte Neonlicht und plätscherten beleuchtete Springbrunnen. Links gab es nicht einmal Elektrizität, kein fließendes Wasser, keine Toiletten und keine Gewähr, dass diesem ganzen Gewirr nicht von einem Tag auf den anderen durch die Behörden, die den Slum derzeit noch widerwillig duldeten, ein Ende gesetzt wurde.
    Ich wandte den Blick von den luxuriösen Limousinen ab, die vor dem Trade Center geparkt waren, und trat meinen langen Weg in den Slum an. Nicht weit vom Eingang gab es eine offene Latrine, von hohen Gräsern und aufgehängten Bastmatten

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