Shantaram
verdeckt. Der Gestank war widerwärtig und nahezu unerträglich. Er durchdrang die Luft, und es kam mir vor, als lege er sich in einer schleimigen Schicht auf meine Haut. Während ich würgend versuchte, meinen Brechreiz zu unterdrücken, warf ich einen Seitenblick auf Prabaker. Und zum ersten Mal entdeckte ich eine Spur Zynismus in seinem Lächeln, das plötzlich auch matter wirkte.
»Siehst du, Lin«, sagte er, und seine Mundwinkel zogen sich nach unten bei diesem untypischen harten Lächeln. »Siehst du, wie die Menschen leben.«
Als wir die Latrine hinter uns gelassen hatten und zwischen den ersten Hüttenreihen entlanggingen, wehte eine leichte Brise von der Küste herüber, an die der Slum angrenzte. Die Luft war heiß und schwül, doch der Wind vertrieb den üblen Gestank der Latrine. Jetzt roch es nach Gewürzen, frisch gekochtem Essen und Räucherstäbchen. Aus der Nähe betrachtet, entpuppten sich die Hütten als armselige Konstruktionen aus Papp- und Plastikstücken, dünnen Bambusstangen und Bastmatten als Wänden zusammengestückelt und auf dem nackten Boden errichtet. Beton oder Mauerwerk sah man nur, wo Böden und Grundmauern abgerissener Gebäude noch erhalten waren.
Während ich durch die schmalen Gassen des Slums ging, sprach sich herum, dass der Ausländer im Anmarsch war. Unmengen von Kindern scharten sich um Prabaker und mich, kamen dicht an uns heran, jedoch ohne uns zu berühren. Mit großen Augen betrachteten sie uns und brachen immer wieder in nervöses Gekicher aus. Sie tanzten, zappelten und hüpften um uns herum und riefen einander aufgeregte Worte zu, wenn sie in unsere Nähe kamen.
Überall erschienen Leute in der Tür ihrer Hütte. Dutzende und bald sogar Hunderte von Menschen drängten sich in den Seitengassen und den vereinzelten Lücken zwischen den Hütten. Sie starrten mich so ernsthaft und durchdringend an, dass ich annahm, sie seien mir alles andere als wohlgesonnen, was natürlich nicht stimmte. Damals, an meinem ersten Tag, konnte ich nicht wissen, dass die Leute meine Angst anstarrten. Sie versuchten herauszufinden, welche Dämonen von mir Besitz ergriffen hatten, dass ich eine solche Angst vor diesem Slum empfand, der für sie Zufluchtsort vor einem viel schlimmeren Schicksal war.
Und tatsächlich kannte auch ich trotz meiner Angst vor dem Schmutz und den dicht gedrängten Menschenmassen ein Schicksal, das weit schlimmer war als ein Leben im Slum. Es war so unerträglich gewesen, dass ich über eine Gefängnismauer gestiegen war und alles aufgegeben hatte, was ich kannte und liebte, um ihm zu entfliehen.
Als wir die Hütte erreicht hatten, verkündete Prabaker über das Geplapper der Kinder hinweg stolz: »Ist das jetzt dein gutes Haus, Lin. Gehst du rein. Schaust du es selbst an.«
Die Hütte war wie all die anderen ringsum. Eine schwarze Plastikplane fungierte als Dach, die Wände bestanden aus handgewebten Bastmatten an einem Gerüst aus dünnen Bambusstangen, die mit Kokosfaserschnur zusammengebunden waren. Der Boden, nackte Erde, war von meinen Vorgängern fest und glatt getreten worden. An Scharnieren aus Schnur hing eine dünne Sperrholzplatte als Tür. Die Decke war so niedrig, dass ich mich ducken musste, und der ganze Raum maß nicht mehr als vier mal zwei Schritte. Ziemlich genau die Größe einer Gefängniszelle.
Ich stellte meine Gitarre in eine Ecke, zerrte den Verbandskoffer aus meinem Rucksack und stellte ihn in eine andere Ecke. Gerade wollte ich ein paar Kleider auf die Drahtkleiderbügel hängen, die ich mitgebracht hatte, als Prabaker mich von draußen rief.
Als ich aus der Hütte trat, sah ich Johnny Cigar, Raju, Prabaker und ein paar andere Männer in der Gasse zusammenstehen. Ich begrüßte diejenigen, die ich kannte, den anderen wurde ich vorgestellt.
»Ist das da Anand, dein neue Nachbar von die links Seite«, sagte Prabaker, und ich schüttelte dem großen, gut aussehenden jungen Sikh, dessen langes Haar von einem gelben Tuch verdeckt war, die Hand.
»Hallo«, sagte ich lächelnd und erwiderte seinen herzlichen und kräftigen Händedruck. »Ich kenne noch einen anderen Anand – er ist Hotelchef im India Guest House.«
»Ist er ein guter Mann?«, fragte Anand, verwirrt die Stirn runzelnd.
»Er ist ein netter Kerl. Ich mag ihn.«
»Gut«, antwortete Anand mit einem jungenhaften Lächeln, das die Ernsthaftigkeit in seiner tiefen Stimme Lügen strafte. »Dann sind wir ja beinahe Freunde, na ?«
»Wohnt Anand zusammen mit ein anderer von
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