Shardik
schwer bedrängten Soldaten eines Heeres befällt, das eine Schlacht zwar noch nicht verloren hat, sie aber verlieren wird. Es drängt sie, um jeden Preis im Augenblick von jedem weiteren Ringen abzulassen, sich auszuruhen, mag kommen, was da wolle, obwohl sie wissen, daß dann der Kampf nur mit noch größerem Nachteil wiederaufgenommen werden könnte. Der Oberschenkelmuskel seines rechten Beines war gezerrt und schmerzte. Zwei von den Stichwunden in der Schulter und in der Hüfte, die ihm Mollo zugefügt hatte, pulsierten unaufhörlich. Noch bedrückender aber war das Bewußtsein, daß er bei der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, versagt hatte, da es nun nicht mehr möglich sein würde, Shardik wieder einzufangen, bevor er die Hügel erreicht hätte. Er blickte nordwärts über die Bäume und konnte deutlich die nächsten im Morgenlicht grün und braun leuchtenden Hänge und die purpurfarbenen Schatten erkennen. Sie mochten ungefähr zehn Kilometer weit entfernt sein. Auch Shardik mußte sie erblickt haben. Am Abend würde er dort angekommen sein. Nun würde man Wochen – vielleicht Monate – brauchen, um ihn in diesem Gelände aufzuspüren – einen alten, durch die Erfahrung früherer Gefangenschaft schlau und verzweifelt gewordenen Bären. Es gab keine Hilfe, die Ortelganer würden die mühseligste aller Aufgaben auf sich nehmen müssen – die Aufgabe, die ausgeführt werden mußte, um Dinge, die nie hätten mißlingen dürfen, wieder in Ordnung zu bringen.
Er war an diesem Morgen einer sicheren Verwundung, vielleicht sogar dem Tod entgangen, denn es war unwahrscheinlich, daß die rauhe Rechtspflege der Bauern einen Ortelganer geschont hätte: und wer würde jetzt glauben, daß er der König von Bekla war? Ein bewaffneter Halsabschneider, der betteln oder rauben mußte, um zu essen, konnte nur, wenn er Leben und Glieder riskierte, seinen Weg machen. Was nützte es ihm, wenn er nun Shardik weiter folgte? Die gepflasterte Straße konnte nicht mehr als eine halbe Tagereise weiter östlich liegen – vielleicht weniger. Es war Zeit zurückzukehren, seine Untertanen um sich zu versammeln und den nächsten Schritt von Bekla aus zu planen. War Elleroth gefangengenommen worden? Und welche Nachricht war von dem Heer in Toniida gekommen?
Er machte sich auf den Weg nach Süden, entschlossen, eine Zeitlang dem Strom zu folgen und erst dann nach Osten abzubiegen, wenn er weit genug von dem Dorf entfernt wäre. Bald wurde sein Schritt langsamer und zögernder. Er war vielleicht einen knappen Kilometer weit gekommen, da blieb er stirnrunzelnd stehen und schlug in seiner Verwirrung auf die Büsche ein. Da er nun Shardik tatsächlich verlassen hatte, sah er die Lage in einem anderen und beunruhigenden Licht. Die Folgen seiner Rückkehr ließen sich nicht abschätzen. Seine Monarchie und seine Macht waren von Shardik nicht zu trennen. Zwar hatte er Shardik zur Schlacht im Vorgebirge gebracht, aber Shardik hatte ihn auf den Thron von Bekla gesetzt und dort gehalten. Mehr noch, Schicksal und Macht der Ortelganer beruhten auf Shardik und auf dem Weiterbestand seiner eigenen seltsamen Fähigkeit, dem Bären gegenüberzutreten, ohne Schaden zu erleiden. Konnte er gefahrlos nach Bekla zurückkehren mit der Nachricht, daß er den verwundeten Shardik im Stich gelassen hatte und nicht mehr wußte, wo er war, ja, nicht einmal, ob er noch lebte oder tot war? Welche Wirkung würde das beim jetzigen Stand des Krieges auf das Volk haben? Und was würde man mit ihm tun?
Kaum eine Stunde nach Verlassen der Brücke war Kelderek dahin zurückgekehrt und ging nun stromaufwärts zum Nordende des Waldes. Dort gab es keine Spuren, und er versteckte sich und wartete. Doch erst am Nachmittag erschien Shardik wieder und setzte seine langsame Wanderung fort – möglicherweise ermutigt durch den vom Nordwestwind herangetragenen Geruch der Hügel.
36. Shardik ist fort
Am Nachmittag des nächsten Tages war Kelderek dem Zusammenbruch nahe. Hunger, Müdigkeit und Schlafmangel hatten an seinem Körper gezehrt wie Würmer an einem Dach, wie Rost an einer Zisterne oder Furcht in einem Soldatenherzen – immer etwas mehr fortgenommen, etwas weniger zurückgelassen, was der Schwerkraft, dem Wetter, der Gefahr und der Furcht widerstehen konnte. Wie kommt das Ende? Vielleicht entdeckt ein Techniker, der endlich zur Inspektion und Prüfung kommt, daß er mit dem Finger die ausgehöhlten, papierdünnen Eisenplatten durchbohren kann.
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