Shardik
einem kleinen Teich. Dort hatte Shardik gelegen und das Gras abgeflacht und zerdrückt. Halb in dem Teich versenkt lag ein Toter, bedeckt mit einem blauen Mantel, auf dem Bauch. Sein Hinterkopf war aufgerissen, das Gehirn lag frei, und daneben lag eine blutige Speerspitze. Der Schaft war nirgends zu sehen; vielleicht war er in den Abgrund gefallen.
Kelderek vernahm eine Bewegung hinter sich und fuhr herum. Doch der Mann, der zu ihm getreten war, war noch immer unbewaffnet.
»Du mußt jetzt gehen, Herr«, flüsterte er Kelderek zu und zitterte wie vor etwas Übernatürlichem. »Ich habe so etwas noch nie erlebt, aber ich weiß, was geschehen muß, wenn die vom Streel herauskommen. Du hast es jetzt selbst gesehen und weißt, daß das Geschöpf uns und unserer Kraft überlegen ist. Es ist Gottes Wille. Verschone uns bitte, Herr, in Seinem Namen und geh!«
Darauf fielen alle drei auf die Knie, falteten die Hände und blickten in so offensichtlicher Furcht und demütig bittend zu ihm auf, daß er sich das gar nicht erklären konnte.
»Es wird dich jetzt keiner anrühren, Herr«, sagte endlich der erste Mann, »weder wir noch die anderen. Wenn du es wünschst, gehe ich mit dir, wohin du willst, bis zur Grenze von Urtah. Nur geh fort!«
»Also gut«, sagte Kelderek, »du wirst mit mir kommen, und wenn noch einer von euch kotfressenden Schweinen mich zu verraten versucht, bist du der erste, der stirbt. Nein, laß deinen Speer liegen und komm!«
Doch nach fünf Kilometern ließ er seine jämmerliche, verzweifelte Geisel frei, die sich vor ihm wie vor einem Gespenst zu fürchten schien, und ging wieder allein weiter, Shardiks Gestalt folgend, die in der Ferne das Tal in nördlicher Richtung durchquerte.
35. Shardiks Gefangener
Nach und nach wurde Kelderek klar, daß er sich ohne Freunde, fern von Hilfe, von Not bedrängt und auf gefährlichen Pfaden in fremdem Land umhertrieb. Erst später merkte er auch, daß er Shardiks Gefangener geworden war.
Der Bär war sichtlich durch seine letzte Wunde weiter geschwächt worden. Sein Tempo war langsamer, und obwohl er den Hügeln – die nun am nördlichen Horizont deutlich sichtbar wurden – mit unverminderter Entschlossenheit zustrebte, blieb er häufiger stehen und ließ sich sein Leiden dann und wann durch ein plötzliches Zusammenzucken und unnatürliche, jähe Bewegungen anmerken. Kelderek, der nun weniger Angst vor einem seiner plötzlichen Angriffe hatte, denen man nicht entrinnen konnte, folgte ihm in kürzerer Entfernung und rief ihm mitunter zu: »Mut, mein Herr Shardik!« oder: »Ruhig, mein Herr Shardik, deine Stärke kommt von Gott!« Ein paarmal schien es ihm, daß Shardik seine Stimme erkannte und sie sogar als tröstlich empfand.
Die Nacht brach jäh herein, und obwohl Shardik sich mehrere Stunden ausruhte, weithin sichtbar im Freien liegend, fand Kelderek keinen Frieden, sondern wanderte umher und beobachtete ihn aus einiger Entfernung, bis der Bär plötzlich, als die Nacht fast vorbei war, aufstand, jämmerlich hustete und sich wieder in Bewegung setzte; in der Stille war sein mühsamer Atem deutlich zu hören.
Kelderek wurde schrecklich hungrig, und als er später am Vormittag in einiger Entfernung zwei Hirten erblickte, die Schafhürden aufstellten, lief er fast einen Kilometer weit zu ihnen, um sie um etwas Eßbares zu bitten – ein Stück Brot, einen Knochen; dabei behielt er Shardik im Auge. Zu seiner Überraschung erwiesen sie sich als freundlich – einfache Männer, denen er in seiner Not und Müdigkeit leid tat und die willig waren, ihm zu helfen, als er ihnen erzählte, er müsse zwar aufgrund eines frommen Eides dem riesigen Geschöpf folgen, das sie in der Ferne sahen, brauche jedoch dringend jemanden, um eine Botschaft nach Bekla zu schicken. Durch ihre gute Aufnahme ermutigt, erzählte er ihnen vom Erlebnis des Vortags. Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er, daß sie einander in Angst und Bestürzung anstarrten. »Die Streels! Gnade uns Gott!« murmelte der eine. Der andere legte einen halben Brotlaib und ein wenig Käse auf den Boden, trat zurück und sagte: »Hier ist Essen!« Dann sagte er wie der Mann mit dem Speer: »Tu uns nichts zuleide, Herr – nur geh fort!« Doch diese beiden handelten schneller als Kelderek, denn sie rannten daraufhin fort und ließen ihre Zurichtemesser und Schlegel bei den Hürden liegen.
An jenem Abend wanderte Shardik zu einem Dorf, das Kelderek durchquerte, ohne von jemandem angesprochen oder
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