Shardik
gesehen zu werden, als wäre er ein Geist oder eine verwünschte Seele aus einer Legende, verurteilt, für irdische Augen unsichtbar umherzuwandern. Am Dorfrand tötete Shardik zwei Ziegen, doch die armen Tiere machten wenig Lärm, und es wurde nicht Alarm geschlagen. Als er gefressen hatte und forthinkte, aß auch Kelderek im Dunkel hockend, indem er mit Fingern und Zähnen an dem noch warmen, rohen Fleisch riß. Später schlief er, zu müde, um sich zu fragen, ob Shardik fort sein würde, wenn er aufwachte.
Bevor er die Augen aufschlug, drang Vogelgesang an sein Ohr, und das erschien ihm zuerst natürlich und erwartungsgemäß, bis er sich mit plötzlichem Erschrecken erinnerte, daß er nicht mehr ein Junge in Ortelga war, sondern ein armer Teufel, der allein im beklanischen Flachland lag. Dort gab es aber kaum Bäume, das wußte er genau, daher auch keine Vögel außer Bussarden und Lerchen. Da hörte er Menschenstimmen in der Nähe und schlug, ohne sich zu regen, die Augen auf.
Er lag bei der Straße, auf der er Shardik in der Nacht gefolgt war. Neben ihm krochen schon die Fliegen über die Ziegenkeule, die er abgerissen und mitgenommen hatte. Das Land war nicht mehr flach, sondern eine wilde, von kleinen Feldern und Obstgärten unterbrochene Waldlandschaft. In der Nähe ließ das Holzgeländer einer Brücke erkennen, wo der Weg über einen Fluß führte, und jenseits lag ein dichter, von Gestrüpp durchwachsener Wald.
Keine zehn Meter weit standen ein paar Männer, die leise miteinander sprachen und finster zu ihm herüberblickten. Einer trug eine Keule, und die anderen hatten grobe, hauenartige Hacken, das einzige Werkzeug des Ackerbauers. In ihren zornigen Blicken lag auch etwas Unsicherheit, und als Kelderek einfiel, daß dies wahrscheinlich der Besitzer der Ziegen und dessen Nachbarn waren, wurde ihm klar, daß er wohl eine furchteinflößende Gestalt geworden war – bewaffnet, hager, zerlumpt und schmutzig, Hände und Gesicht mit getrocknetem Blut beschmiert, und neben ihm lag ein Stück rohes Fleisch.
Als er plötzlich aufsprang, schreckten die Männer zurück. Doch obwohl es Bauern waren, mußte er mit ihnen rechnen. Nach kurzem Zögern kamen sie auf ihn zu und blieben erst stehen, als er Kavass’ Schwert zog, sich an einen Baum lehnte und ihnen, indem er sich mit seiner eigenen Stimme Mut machte, auf ortelganisch drohte, ohne sich darum zu kümmern, ob sie ihn verstanden.
»Du legst jetzt das Schwert hin und kommst mit uns!« sagte einer der Männer barsch.
»Ortelganer – Bekla!« rief Kelderek und wies auf sich.
»Ein Dieb bist du«, sagte ein anderer, älterer Mann. »Und Bekla ist weit entfernt, die werden dir nicht helfen, sie haben ohnehin selbst genug Verdruß. Wer immer du bist, du hast ein Unrecht begangen. Du kommst jetzt mit uns!«
Kelderek schwieg und wartete, ob sie ihn angreifen würden, aber sie zögerten und zogen sich nach einer Weile vorsichtig auf die Straße zurück. Sie folgten ihm und riefen ihm dabei Drohungen in ihrem Dialekt zu, den er kaum verstand. Er schrie zornig zurück, und als er, mit der linken Hand rückwärts tastend, das Brückengeländer hinter sich spürte, wollte er sich schon umdrehen und fortlaufen, da plötzlich deuteten sie an ihm vorbei und lachten triumphierend. Er blickte rasch nach hinten und sah, daß sich zwei Männer von der anderen Seite der Brücke näherten. Sichtlich hatte man sich allgemein auf die Jagd nach dem Ziegenräuber gemacht.
Die Brücke war nicht hoch, und Kelderek wollte schon über das Geländer springen – obwohl das die Jagd nur ein wenig verlängert hätte –, als die Männer vor und hinter ihm plötzlich laut schrien und in alle Richtungen davonrannten. Unangreifbar und endgültig wie der Einbruch der Nacht auf einem Schlachtfeld war Shardik aus dem Wald gekommen und stand nun am Straßenrand, starrte in die Sonne und betastete betrübt mit seiner riesigen Tatze den verwundeten Nacken. Langsam, wie ein Leidender, wanderte er zum Flußufer und trank, nur wenige Schritte vom anderen Brückenende über das Wasser gebeugt. Dann hinkte er mit trübem Blick, trockenem Maul und gesträubtem Fell davon in den Schutz des Dickichts.
Kelderek stand noch auf der Brücke, ohne weiter daran zu denken, ob die Bauern wiederkommen würden oder nicht. Am Beginn dieses vierten Tages, seit er Bekla verlassen hatte, fühlte er sich beinahe erschöpft, nicht nur körperlich. Es war ein Verzagen an der Zukunft, eine Sehnsucht, wie sie die
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